Moderne Tarantelbesessene: die „Nomadenfrauen“ der italienischen Gegenwartsliteratur
Die süditalienische Tanzkrankheit des Tarantismus – hervorgerufen durch den Biss einer sagenhaften Spinne – ist kein Mythos. Warum? Weil seine Konstitution als intermediales Phänomen, im Besonderen seine Film- (Gianfranco Mingozzi, Diego Carpitella, Edoardo Winspeare) und Fotoaufnahmen (Franco Pinna, Francesco De Raho, André Martin u.a.) zwar Unglaubliches darstellen, aber etwas „was gewesen ist“ (R. Barthes): unruhige, zügellose Frauen, Gebissene, die für einige Tage oder eine Woche in einem Zustand der temporären Flucht aus ihrem Alltag verbleiben und dabei eine Vielzahl von obszönen, pathologischen, hysterischen Gebärden vollziehen und die vor allem immerzu tanzen, eine unglaubliche Anzahl von Stunden pro Tag, tanzen wie Wahnsinnige bis zur Erschöpfung. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Tarantate moderne“ fokussiert nun die Protagonistin dieses salentinischen Ritus, la tarantata als erfolgreiches Motiv der italienischen Gegenwartsliteratur (A. Morino, G. Bandini, T. Ciaula, C. Nubile,...) und als Zentrum einer Mediengeschichte. Mit besonderer Berücksichtigung des ikonographischen Materials der Equipe des berühmten neapolitanischen Anthropologen Ernesto De Martino aus dem Jahr 1959 soll dabei den intermedialen Bezügen zwischen ikonographischem sowie filmischem Material und anthropologischen wie literarischen Texten nachgegangen werden, um schließlich die mediale und interpretatorische Verfassung, Zurichtung und Festschreibung dieses Ritus und seines Personals erschließen zu können.
Alexandra Rieder studierte in Wien und Bologna Romanistik (Italienisch) mit den Wahlfächern Philosophie und Gender Studies. Nach Studienaufenthalten in Cagliari, Florenz und Rom folgte 2007/08, im Rahmen ihrer Diplomarbeit über den süditalienischen Tarantismus, ein Forschungsaufenthalt an der Università del Salento, Lecce. Sie ist Doktorandin am Institut für Romanistik und war 2010 Forschungsstipendiatin der Universität Wien.
Die „salentinische Antwort“ der Grenzgängerin: la tarantata – Literarische Streifzüge durch die italienische Gegenwartsliteratur auf der Suche nach modernen menadi tarantate, in: Beiträge zum 25. Forum Junge Romanistik, Bonn 2010 [im Erscheinen]; Il (neo)tarantismo in letteratura: c’è sempre morso nella terra dei rimorsi, Diplomarbeit, Wien 2009, in: http://othes.univie.ac.at/4632/ (= Website der Universitätsbibliothek Wien), 26. 4.2010; Il (neo)tarantismo in letteratura, in: Vincenzo Santoro und Sergio Torsello (Hg.), Sui patrimoni immateriali del Salento e del Gargano. Problemi e prospettive, Roma 2010.
Bis in die 1980er-Jahre waren sie zu bestimmten Zeiten des Jahres in den Straßen Südapuliens präsent: die Tarantelbesessenen. Meist junge Frauen, die „wie von der Tarantel gestochen“ tanzten und mitunter sogar ihre Mitmenschen attackierten. Darüber, wie sich dieses Phänomen in Ethnologie und Literatur niederschlägt, spricht Alexandra Rieder.