Die Evidenz des Geschlechts. Die Meerjungfrau als kulturgeschichtliches Paradigma emphatischer Weiblichkeit
Die Evidenz des Geschlechts ist scheinbar anatomisch garantiert. Ein Blick auf den Unterleib soll verraten, wer Frau oder Mann ist. Wie Hans Blumenberg zeigte, wird das Paradigma der "nackten Wahrheit" auch für die Lesbarkeit des Textes bemüht. Wenn sexuelle Hermeneutik voyeuristisch ist - gilt das dann nicht auch für die textuelle Hermeneutik? Liegt die von Roland Barthes beschworene "Lust am Text" nicht auch in der Entschleierung seiner Wahrheit?Das literatur- und kulturgeschichtlich allgegenwärtige Motiv der Meerjungfrau verweist auf ein paradoxes Phantasma emphatischer Weiblichkeit. Die Sirenen der Antike, die Melusinen des Mittelalters und die Undinen der Neuzeit sind in einem Widerspruch befangen. Einerseits sollen sie die als verführerisch und bedrohlich imaginierte Essenz des Weiblichen verkörpern, andererseits verweigert ihr vogel-, schlangen- oder fischähnlicher Unterleib die vermeintliche Evidenz des weiblichen Geschlechts. Somit bietet das Bild der Meerjungfrau den historisch-kulturwissenschaftlich arbeitenden Abteilungen der Geschlechter- (Gender Studies) und Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) ein erstklassiges Paradigma für die Analyse eines Modells von Geschlechterdifferenz, das auf den Kategorien der Essenz und Evidenz gründet.
Andreas Kraß ist seit 2004 Professor für Ältere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Promotion und Habilitation an der LMU München. Forschungs- und Lehraufenthalte in Konstanz, Zürich, New York und Seattle. Stipendien des DAAD, der DFG, der Humboldt-Stiftung und der Max Kade Foundation.
(u. a.): gem. mit Thomas Frank (Hg.), Tinte und Blut: Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt/Main 2008; Geschriebene Kleider: Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen 2006; (Hg.), Queer denken: Gegen die Ordnung der Sexualität, Frankfurt/Main 2003; gem. mit Alexandra Tischel (Hg.), Bündnis und Begehren: Ein Symposium über die Liebe, Berlin 2002; Stabat mater dolorosa: Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter, München 1998.