Karl Philipp Moritz: zum Verhältnis von Literatur und Sprechakttheorie
Das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Sprechakttheorie ist maßgeblich mit dem Problem beschäftigt, ob Literatur als "ernsthafter" oder als "unernster" Sprechakt zu gelten habe. Diese Debatte hat das Faktum in den Hintergrund gerückt, daß Literatur tatsächlich ein unvergleichliches Universum von Sprechakten darstellt, ein historisch präzises Reservoir an Beispielen, Mustern und Strategien der Rede. Inwieweit die Literaturwissenschaft selbst eine derartige Bestimmung von Literatur als Mimesis von Rede vernachlässigt hat, zeigt sich an den hermeneutischen Verlegenheiten, mit denen der sogenannte "negative Bildungs-", "Verbildungs-" oder "Antibildungsroman"Anton Reiser von Karl Philipp Moritz konfrontiert. Wenn man die Aufmerksamkeit auf die Sprechakte dieses Buches richtet (es besteht zu 60% aus zitierter, referierter oder interpretierter Rede), so zeigt sich sehr wohl eine präzise Dramaturgie des Romans: Es ist die über Fehler, Mißverständnisse und sprachliches Unglück laufende Entwicklung eines sprechenden Subjekts aus den Anfangsgründen des Hörens, über das Erlernen von Sprache und Schrift bis hin zur öffentlichen Rede. Dieses Sprechaktpanaroma gilt es systematisch zu erschließen: in den Wörtern (verba dicendi) und ihren Kontexten – Grundlage eines Historischen Lexikons der Sprechakte, das über Moritz hinaus weitere kanonisch gewordene Autoren der Klassik einzuschließen hätte (was wiederum Anschlußpunkte an andere Kulturwissenschaften bietet, etwa die Darstellung von Sprechakten in musikalischen Formen, in der Bildhauerei, bildlichen Darstellungen …).
Assistenzprofessor am Institut für Germanistik, Universität Wien
U.a. Die Ordnung des Lebens. Zu Franz Grillparzers "Selbstbiographie" (Tübingen: Niemeyer 1991)= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 61;Franz Grillparzer: Selbstbiographie. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort (Salzburg: Residenz 1994); Sex & Rhyme. Bausteine zum Konzept eines poetical gender, in: Friedbert Aspetsberger und Konstanze Fliedl (Hg.): Geschlechter. Essays zur Gegenwartsliteratur (Innsbruck 2001), S. 155-180