Blicktest, Sehschule, Zuschauerforschung. Biopolitik des Sehens im sowjetischen Nicht-Spielfilm der 1920er-Jahre
Die zwei großen Projekte der jungen Sowjetunion, der "Neue Mensch" der revolutionären Politik und das "Neue Sehen" der technischen Medien überlagern sich und bedingen einander. Beide Topoi haben Mitte der 1920er-Jahre Hochkonjunktur und verweisen auf eine andere Überlagerung: Jene Phase der Filmgeschichte, in der die Kinematografie ihr Potenzial als Medium erstmals selbstreflexiv wahrnimmt, korrespondiert mit einem politischen Regime, das sich ebenfalls "reflektiert" und "rationalisiert", dessen "Korrelat, einer bestimmten Weise zu regieren", der Staat und dessen Machtkalkül "das Leben selbst" ist - mit der Biopolitik, wie Foucault sie beschrieben hat. An dieser Schnittstelle etabliert sich in der UdSSR eine Vielzahl filmischer und experimenteller Praktiken, deren Fokus auf das Verhalten des Menschen vor der Kamera und auf der Leinwand fällt. Barbara Wurm widmet sich in ihrem Projekt den nichtfiktionalen Filmformen, deren Bandbreite vom wissenschaftlichen Filmeinsatz im Bereich der Arbeitswissenschaften und der Psychotechnik über (populäre) Wissenschaftsfilme bis hin zu Kulturfilmen und agitatorischen "Kinoplakaten" reicht.
Barbara Wurm studierte Slavistik, Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Innsbruck, Moskau und München. Sie ist Doktorandin an der Freien Universität Berlin. Von 2004-2007 Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg "Codierung von Gewalt im medialen Wandel" an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2004 Lehraufträge in Berlin und an der Universität Wien. Tätigkeit als freiberufliche Kritikerin und Kuratorin.
(u. a.): Gastevs Medien. Das "Foto-Kino-Labor" des CIT, in: Matthias Schwartz, Wladimir Velminski, Torben Philipp (Hg.), Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860-1960, Frankfurt/Main u. a. 2008, S. 347-390; Schauen wir uns an! Axiome der filmischen Menschwerdung (Sowjetunion 1925-1930), in: Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.), Mr. Münsterberg und Dr. Hyde. Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments, Bielefeld 2007, S. 99-130; "Walzer der Freiheit". (In-)Offizielle Filmdiplomatie der Sowjetunion. Der Fall Österreich, in: Lars Karl (Hg.), Leinwand zwischen Tauwetter und Frost. Der osteuropäische Spiel- und Dokumentarfilm im Kalten Krieg, Berlin 2007, S. 223-251; gem. mit dem Österreichischen Filmmuseum, Thomas Tode (Hg.), Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, Wien 2006.