Ort ohne Ort: das Schiff
Das Schiff ist ein ungeheures Arsenal der Träume und Gleichnisse unserer Kultur: Die Reise des Lebens und der Dichtung, das Reich der Toten, der Wahnsinn, aber auch der Staat, die Kirche und das "Navigieren" im Internet sind dauerhaft mit dem Bild des Schiffs verknüpft worden. Bernhard Siegert geht der Frage nach, warum sich um das Schiff mehr und widersprüchlichere Bilder, Phantasien und Metaphern ranken als um jede andere technische Erfindung der Menschheit. Der Grund könnte darin liegen, daß die Seefahrt den Widerspruch menschlicher Kultur aufs schärfste kennzeichnet, die zwar den Menschen in einem eigenmächtigen Akt der "Selbsthilfe" vor dem Untergang bewahrt, ihn aber dadurch zugleich in einen prinzipiellen Gegensatz zur göttlichen Weltordnung und zum Gesetz (Nomos) stellt. Wenn der Nomos Einheit von Ordnung und Ortung ist, dann liegt dem Schiff als heterotoper Verkörperung dieses Nomos immer schon die Nichtidentität, die Nicht-Einheit von Ordnung und Ortung zugrunde. Denn als ein zwischen Recht und Disziplin, Symbol und Ritual angesiedelter Ort im Raum des Ortlosen muß das Schiff die Einheit von Ordnung und Ortung immer erst mit Hilfe von Medien (Karten und Instrumenten) im Symbolischen künstlich herstellen. Im glatten Raum des Meeres unterstehen die Institutionen und symbolischen Ordnungen des Lebens den Bedingungen ihrer medialen Projektion.
Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Schiff als Ort der Überschneidung kultureller und medialer Repräsentationsbrüche in den kultur-, kunst-, rechts-, medien- und kriegsgeschichtlichen Kontexten der Seefahrt, die Bernhard Siegert aufeinander beziehen und deren Interferenzen er sichtbar machen möchte.
Gerd-Bucerius-Professor für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar
U.a. Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin 2003; Auslassungspunkte, Leipzig 2003; (Hg. gemeinsam mit Markus Krajewski) Thomas Pynchon: Archiv – Verschwörung – Geschichte, Weimar 2003; (Hg. gemeinsam mit Joseph Vogl) Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich/Berlin 2003; (Hg. gemeinsam mit Annette Bitsch und Peter Berz) FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag, München 2003; (Hg. gemeinsam mit Michael Franz) Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2004