Der lange Blick auf die kleinen Dinge
Im Rahmen der mittelalterlichen Anthropologie sind Blick und Wahrnehmung nicht vollständig ineinander zu überführen. Neben dem schnellen, verständigen Blick durch die Oberfläche, der die Bedeutung hinter den Dingen rasch erfasst, besteht der lange, faszinierte Blick, "der sich von der Dichte der Oberfläche nicht abzulösen vermag" (Assmann 1988) und immer wieder zu seinem Objekt zurückkehrt. Während im monastischen Kontext solch lange Blicke, als contemplatio, als visuelle communion oder als schauende "Vermählung" mit einem Bild, ihren festen Platz in der religiösen, besonders der mystischen Orthopraxis (Carruthers) haben, scheint im höfischen Diskurs, wo er – etwa im Rahmen eines Fürstenspiegels – normativ den Körper reguliert, ebenso wenig wie das wilde "Herumschwenken" des Blicks, seine Verstetigung, das ankapfen, erwünscht. Die höfische Literatur jedoch erzählt auch davon und fächert zwischen dem flîzeclich prüeven (aufmerksam betrachten) und der vollständigen Gebanntheit eine ganze Spannbreite langer Blicke auf. Lancelots Blick, der sich vom Kamm Ginovers nicht lösen kann, gehört hierher, ebenso wie die Versenkung Parzivals vor den Blutstropfen im Schnee. Den Erzählungen über den langen Blick korrespondieren Beschreibungen, die auch den imaginären Blick des Rezipienten auf die "kleinen Dinge", auf schapel, fürspann, Gürtel, Leinen und Borten, auf Narben, die Form einer Ohrmuschel oder die Rundung einer Kehle richten und ihn dort festhalten. Strukturieren Medien wie Metaphern unsere Wahrnehmung immer schon vor (Luhmann 1999), so bietet gerade die höfische Literatur als Erweiterung der Augenwahrnehmung (Wandhoff 1996) ein breites Forschungsfeld für eine Geschichte des verlängerten Blicks, des Starrens, Staunens und Gefangenseins. Der lange Blick auf die kleinen Dinge scheint – und hier setzt das Forschungsprojekt an – zur Geste einer höfischen Konvention der Aufmerksamkeit zu werden, die nicht zuletzt durch die Beschreibungsstrategien der Texte selbst allererst implementiert wird.
(Zusammen mit Horst Wenzel), Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des "Welschen Gastes" von Thomasin von Zerclaere, Böhlau, Köln 2002; Alîse. Nebenwirkungen. Blick-Bewegungen vor der Perspektive, in: Horst Wenzel, Ulrich Schmitt (Hg.), Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800–2000, Erich Schmidt, Berlin 2003, S. 93–111; (zusammen mit Carsten Morsch), Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Peter Lang, Bern 2004 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik – Band 8); Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Erich Schmidt, Berlin 2005.