Andere Augen I: Im Blick des Facettenauges
Ein "kleines, flimmerndes Organ", das aussieht wie ein "winziges Menschenauge" und "sich unaufhörlich öffnet und schließt"; Robert Musils Geschichte "Das Fliegenpapier" endet mit einer verstörenden Verkehrung der Blickrichtung. Das gefangene Insekt scheint seinen Fänger ins Auge zu fassen. Mit dieser Szene aus dem Jahr 1913 wird eine Denkfigur fortgeschrieben, mit der in jener Zeit der Erfahrungshorizont des Menschen im Sehen des Tiers relativiert wird. Wissenschaftshistorisch verweist diese Figur vor allem auf die Erforschung des Facettenauges seit den 1820er-Jahren. Ausgehend von dem anderen Bau dieses Organs verglichen mit dem menschlichen Linsenauge, führt die Diskussion auf die elementaren Punkte, was Sehen für ein solches "anderes Auge" heißt und welche Welten sich begegnen, wenn Tier und Mensch sich erblicken. Ausgangspunkt und Zentrum des Projekts bildet Sigmund Exners epochale Monografie über das Facettenauge, die man mit ihrem Erscheinungsdatum 1891 – zwischen Ernst Machs "Analyse der Empfindungen" und Josef Breuers und Sigmund Freuds "Studien zur Hysterie" – auch als einen weniger bekannten Quell der Wiener Moderne lesen kann. Im letzten Kapitel über "Das Sehen mit den Facettenaugen" werden dort sowohl die grundsätzlichen Erkenntnisprobleme wie die weitreichenden Folgerungen angerissen, die sich mit der Erforschung des Sehens der Tiere bis heute verbinden. Denn was ein kleiner Käfer nach der Einrichtung seiner Organe wahrnehmen könnte und was er wirklich wahrnimmt, sind ebenso zwei verschiedene Dinge wie ein Begriff des Sehens, der vom Menschen ausgeht, und einer, der die "Umwelt des Tieres" voraussetzt (Jakob von Uexküll). Im Blick des Facettenauges stellt sich so auch die Urfrage nach dem Verhältnis von Organ und Leistung; die Frage, ob das Sehen im Bau des Auges schon beschlossen ist, und die Frage, ob es ein Auge ohne die Formen des Sehens gibt. Was schaut uns an im unaufhörlichen Öffnen und Schließen eines kleinen, flimmernden Organs?
Privatdozent für Neuere deutsche Literatur und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin
U. a.: gem. mit Peter Berz (Hg.), Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien, Göttingen 2001; gem. mit Barbara Büscher und Hans-Christian von Herrmann (Hg.), Ästhetik als Programm. Max Bense/Daten und Streuungen, Berlin 2004; gem. mit Caroline Welsh (Hg.), Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde, Berlin 2005.