Wiener Fallgeschichten. Literatur und Medizin 1880 bis 1914
Disziplinen wie die Physiologie, Experimentalpathologie und Hygiene, die paradigmatisch für Ausdifferenzierungsprozesse der Wiener Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen, stellen der Gesellschaft der Jahrhundertwende neue Möglichkeiten der Produktivierung des Körpers bzw. dafür relevante Sprachregelungen zur Verfügung. Damit einhergehend rückt die Medizin in vielfältigen Allianzen und als Motor diskursiver Formationen in den Fokus: Medizinisches Vokabular, Quantifizierungs- und Serialisierungsverfahren in der zeitgenössischen Politik, Ökonomie, Stadtplanung, Kriminalistik, Anthropologie etc. verdeutlichen, in welchem Ausmaß an sozialen Dispositiven des "Normalen" und "Abnormalen" gearbeitet wird. In den literarischen Texten der Wiener Jahrhundertwende lassen sich unterschiedliche Versuche nachzeichnen, die sich an der Konstruktion dieses Körperdiskurses maßgeblich beteiligen bzw. dessen symbolisches Arsenal verwalten - nicht zuletzt das medizinische Interesse für literarische Repräsentationsformen verweist auf semantische Verdichtungen zwischen Literatur und Medizin. Vor dieser Folie nähert sich Clemens Peck in seinem Forschungsvorhaben nicht nur schreibenden Ärzten, pathologisch stigmatisierten Schreibweisen und medizinischen Filiationen im literarischen Feld, sondern er will weiters klären, wie das Verhältnis zwischen dem Genre des Utopieromans und Studien zur Physiologie des Kreislaufs, zwischen einem naturalistischen Stadtroman und der medizinischen Topografie Wiens, zwischen Detektivgeschichten und psychopathologischer Praxis gelagert ist. Dadurch werden Fallgeschichten von Literatur und Wissen(schaft) jenseits eines ästhetizistisch verengten Paradigmas des Wiener Fin de Siècle evident, die aus historischer Perspektive zwangsläufig eine Erweiterung des kulturellen Materials fordern.
Clemens Peck studierte Germanistik und Geschichte in Wien und Berlin. Er ist Doktorand am Institut für Germanistik der Universität Wien.
"Paralysis progressiva". Zur Figuration des jüdischen Bildungsproletariats in Jakob Julius Davids "Am Wege sterben", in: Werner Michler, Karl Wagner (Hg.), Österreichische Literatur des 19. Jahrhunderts in Einzelbetrachtungen, Wien 2008 [im Druck]; Andere Orte der Erinnerung. Zu Peter Handkes "Versuch über die Jukebox", in: Jerzy Kalazny (Hg.), Topographie der Erinnerung, Frankfurt/Main 2007; "Auf dem Weg von Wien nach Wien" - Friedrich Heer an Hilde Spiel und Traugott Krischke, in: Marcel Atze, Michael Hansel, Volker Kaukoreit u. a. (Hg.), "Aus meiner Hand dies Buch ?" Zum Phänomen der Widmung, Wien 2006; Literarische Österreich-Konstruktionen in der Zwischenkriegszeit - Versuch einer Funktionsbestimmung, in: Ewa Pytel-Bartnik, Maria Wojtczak (Hg.), Habitus und Fremdbild in der deutschen Prosaliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2006.