Vernichten und Erinnern im "Dritten Reich"
In der kulturwissenschaftlichen Diskussion über Geschichte, Erinnern und Vergessen wird immer wieder der Verdacht laut, die Nationalsozialisten hätten nicht nur die totale physische Vernichtung des europäischen Judentums, sondern auch die Löschung ihrer Opfer aus "Geschichte und Gedächtnis" geplant. Dieser Verdacht des "Gedächtnismordes", zusätzlich befördert durch das stereotype Bild von den Juden als "Volk der Geschichte" mit einem privilegierten Zugang zu Erinnerung und Gedächtnis, korreliert nicht nur mit der Annahme eines Primats der totalen Vernichtung vor der Ausbeutung der Opfer als Arbeitskräfte und der sukzessiven Vernichtung durch Arbeit, sondern auch mit dem Nachkriegsgestus der Erinnerung an die Verbrechen als notwendige Voraussetzung zur Verhinderung einer Wiederholung ähnlicher Taten.
Nur unzureichend und vereinzelt sind aber bislang in der historischen Forschung Projekte und Phänomene beachtet worden, die dem Versuch eines totalen Vergessenmachens der Opfer ganz offensichtlich entgegenstehen und eher für den Versuch einer weitergehenden, noch über die Vernichtung hinausreichenden Funktionalisierung sprechen. Die naheliegende Frage nach der "Geschichtskultur" des "Dritten Reiches" in direktem Zusammenhang mit Vernichtungsplänen und-praxis des Regimes sowie nach einer "Erinnerungspolitik" der Täter gegenüber ihrer Tat und ihren Opfern wurde mit ihren weitreichenden Implikationen in der Geschichtswissenschaft kaum deutlich gestellt, obwohl sie sich bei einem Projekt wie der "Endlösung" eigentlich aufdrängen müßte. Das "Jüdische Zentralmuseum" in Prag, die Aktivitäten zur Sammlung und Ausstellung von jüdischen Kultgegenständen unter Aufsicht der SS in den Jahren 1942-1945, bieten dafür nur ein, allerdings höchst signifikantes Beispiel. Dies liegt jedoch nicht etwa in der vermeintlichen Skurrilität oder Absurdität der Vorgänge begründet, sondern vielmehr in der Tatsache, daß dieses Museumsprojekt in direktem Zusammenhang mit Beraubung, Vertreibung und Vernichtung der Juden stand.
Diese Erinnerungsprojekte der Täter an ihre Opfer- im Extremfall sogar an ihre Tat, das Verbrechen selbst - affizieren darüber hinaus möglicherweise auch die pathetische Rhetorik des "Niemals Vergessen!" der Nachkriegszeit und ihre Repräsentationsstrategien. Es soll die Überschneidung von Vernichtung und Erinnerung in verschiedenen Bereichen beleuchtet werden. Die Debatte um Geschichte, Erinnerung und Vergessen soll damit für die Geschichtsforschung zum "Dritten Reich" und zu dessen Folgen auf neue Art fruchtbar gemacht werden, zugleich sollen sich aber auch neue Perspektiven auf diesen bestimmenden Forschungsansatz der letzten Jahre eröffnen. Nationalsozialismus und Holocaust sollen nicht mehr nur als Ausgangspunkt für die Problematisierung des Verhältnisses von "Geschichte und Gedächtnis" und die Gedächtnisdiskurse der Nachkriegszeit herangezogen werden, sondern selbst unter den Paradigmen von "Geschichtskultur" und "-politik" untersucht werden: Der Vernichtungspolitik parallel ist eine "Erinnerungspolitik" des "Dritten Reiches" zu rekonstruieren. Diese präformiert möglicherweise schon in einem bestimmten Maße die Erinnerungs- und Aufarbeitungsstrategien und deren Probleme in der Nachkriegszeit. Gedenkdiskurse und Formen der Erinnerung entstünden so nach 1945 nicht allein als Antwort auf das Verbrechen, sondern befänden sich schon in einer Kontinuität von Maßnahmen und Projekten der Täter wie auch der Opfer. Es soll ein Bogen geschlagen werden, der zeitlich den Nationalsozialismus wie auch die Nachkriegszeit, inhaltlich die Vernichtungs- und Erinnerungspolitik wie auch deren Nachleben, Rezeption und Verarbeitung umfaßt. Parallel dazu sind auf der methodischen Ebene Konzepte und Begriffe von "Geschichts-/Erinnerungskultur" und "Geschichts-/Erinnerungspolitik" zu diskutieren.
Mag. phil., geb. 1972 in Berlin, studierte Geschichte, Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin und Wien. 1998/99 Diplomarbeit am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien über das "Jüdische Zentralmuseum" in Prag. Seitdem Arbeit an einer Dissertation über den Zusammenhang von Vernichtung und Erinnerung im "Dritten Reich". Forschungsaufenthalte in Israel, Tschechien und den Niederlanden. Seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich im Projekt über die "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" in Wien. Mitveranstalter der Reihe "Film in der Zeitgeschichte". Forschungsschwerpunkte: Geschichts- und Gedächtniskultur. NS-Vernichtungspolitik, Kunst/Literatur/Film und Geschichte, Konservative Revolution und Terrorismus.
Laconicum Europae Speculum – Stereotype ohne Schimpf und Vorurteil, in: F. K. Stanzel u.a. (Hg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, (Heidelberg 1999); Täter–Gedächtnis–Opfer. Das Jüdische Zentralmuseum in Prag 1942–1945, (Wien 2000); "Ihr müßt sein, auch wenn ihr nicht mehr seid ...". Das Jüdische Zentralmuseum in Prag 1942–1945 im Spannungsfeld von Vernichtung und Erinnerung, in: Theresienstädter Studien und Dokumente 2000.
Dienstag, 19. November 2020, 18h30, online
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