Ghetto und Großstadt. Prag-Literatur des 20. Jahrhunderts als Stadtnarrativ
Prag bildet auf der mentalen Landkarte meist den exotischen Gegenpol zu den prototypischen modernen Metropolen Wien und Berlin – sei es als Kulisse für die Unwirklichkeit einer "toten Stadt" im Fin de Siècle, als Chiffre für die europäischen Traumata des 20. Jahrhunderts, als Materialisierung des "Kafkaesken" oder als Touristenmagnet. Als "Vielvölkerstadt" scheint Prag aber zugleich auch geprägt von einer typisch modernen Heterogenität.
Dieser symbolische Ort wird wesentlich von literarischen Texten geprägt – so ist es etwa längst selbstverständlich, Prag mit Kafka und Kafka mit Prag zu erklären. Was man unter dem Begriff "Prager deutsche Literatur" zusammenfasst, stellt ein prägnantes Beispiel für eine Stadtliteratur und mithin für die Vertextung von Stadt als typische (bürgerliche) Repräsentationsform der Moderne dar. Zur Komplexität dieses Stadttexts trägt die Präsenz zweier Literaturen bei: Nicht nur Josef K., sondern auch Josef Švejk ist Bestandteil der symbolischen Stadtlandschaft.
Die Übernahme von kulturwissenschaftlichen Ansätzen in die Literaturwissenschaft erlaubt es, die isolierte Betrachtungsweise der traditionellen Autorphilologie zu durchbrechen und literarische Texte in einen Zusammenhang mit anderen Formen der symbolischen Stadtrepräsentation wie z. B. dem städtebaulichen Diskurs zu setzen. Ausgehend vom schillernden Topos des Ghettos, in dem sich konkurrierende Entwürfe Prags als moderne Großstadt und mythischer Ort der Vergangenheit überkreuzen, sollen Prag-Texte als Teil eines sinn- und identitätsstiftenden Stadtnarrativs neu gelesen werden. Dabei ist nach dem Verhältnis von literarischem Text und urbanem Kontext sowie nach der Funktion der Texte im Spannungsfeld von Herrschaft und Kultur zu fragen: Wer die repräsentative Erzählung "seiner" Stadt durchsetzen kann, sichert sich Macht mit symbolischen Mitteln. Der Begriff "Prager deutsche Literatur" spielt hier durch die Verknüpfung von Stadt, Sprache, Text und nationaler Identität eine problematische Schlüsselrolle.
lic. phil., geboren 1974 in Zürich, Studium der Germanistik und Geographie mit Schwerpunkt Urbanistik und englische Linguistik an der Universität Zürich
"Berge heißen nicht." Geographische, soziale und ästhetische Räume im Heidi-Roman, in: Ernst Halter (Hg.): Heidi. Karrieren einer Figur (Zürich 2001), S. 277–289; mit Marie-Louise Strauss: Johanna Spyri – verklärt, vergessen, neu entdeckt (Zürich 2001); Böhmen liegt am Meer. Über die Metamorphosen eines literarischen Irrtums, in: Germanoslavica (im Erscheinen)