Kafkas Architekturen
Kafkas Werk ist durchzogen von Vorstellungen und Argumenten der Architektur. Diese sind aber nicht Staffage, sondern handlungsleitende Konstrukte. Während Architektur üblicherweise im Zeichen der Funktionalität steht, also Baulichkeit und handelnde Personen in einer Lebenskarriere einander zuordnet, herrscht zwischen Kafkas architektonischen Konstruktionen und dem Entwicklungsgang seiner Protagonisten Dysfunktionalität. Geht ein herkömmliches Modell der "Bildung" davon aus, dass organisches Wachstum in soziale Konstruktion überführt wird, so zeigen Kafkas Romane die Unvermittelbarkeit von biologischem Wachstum und konstruktiver Lebensarchitektur. Sein Leben-Erzählen steht, worauf schon Benjamin aufmerksam gemacht hat, im Zeichen des Scheiterns. Kafkas Texte erzählen Karrieren aus ruinösen und labyrinthischen Architekturen heraus. In diesem Projekt wird deren anthropologischer und poetologischer Hintergrund erkundet. Und zwar unter drei Hypothesen: 1. Kafkas Architekturen sind Einsprüche gegen das einvernehmliche architektonische Funktionalitätskonzept. 2. Kafkas Architekturphantasien diagnostizieren soziale und politische Aporien. 3. Kafkas Texte leisten den Transfer von strukturellem Wissen aus der Materialität der Architektur in die Semantisierung der Literatur. Letztlich ist das Projekt ein Versuch über Kafkas Narratologie, die sich zwischen den Ordnungen von Evolution und Konstruktion ("Architektur") zu entfalten sucht.
Gerhard Neumann war Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität München. Seit 2002 ist er emeritiert und hat seit 2005 eine Honorarprofessur an der FU Berlin inne. Zudem ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
(u. a.): gem. mit David Wellbery (Hg.), Die Gabe des Gedichts. Goethes Lyrik im Wechsel der Töne, Freiburg/Br. 2008; gem. mit Caroline Pross und Gerald Wildgruber, Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg/Br. 2000; (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposion 1995, Stuttgart, Weimar 1997; (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall - Rechtsfall - Sündenfall, Freiburg/Br. 1994; gem. mit Wolf Kittler, Franz Kafka. Schriftverkehr, Freiburg/Br. 1990.