Antisemitismus nach 1848: Johann Nestroy und Richard Wagner
Mit Johann Nestroys Hebbel-Travestie Judith und Holofernes und Richard Wagners Schrift über das Judentum in der Musik sowie dessen ersten Entwürfen werden "kulturelle Artefakte" verschiedener ästhetischer, sozialer und regionaler/ nationaler Herkunft herangezogen, um sie als spezifische Reaktionen auf eine große gesellschaftliche und politische Krise Europas vergleichend zu untersuchen. Gerade ihre strukturelle Verschiedenheit (Volkstheatersphäre auf der einen, Musiktheaterverhältnisse auf der anderen Seite) erlaubt es in differenzierender Weise die Frage zu stellen, inwieweit 1848 als eine Schwelle des sogenannten modernen Antisemitismus betrachtet werden kann. Über das Phänomen des Antisemitismus im 19. Jahrhundert existiert eine umfangreiche Forschungsliteratur aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft. Für die Kulturwissenschaften gilt dies nur in eingeschränktem Sinn. Der Zusammenhang mit der Krise von 1848 tritt dabei in den monographischen Untersuchungen meist in den Hintergrund, im Vordergrund steht die Frage, ob und inwieweit dem jeweiligen Künstler, Schriftsteller etc. antisemitische Vorurteile nachzuweisen seien. Die Vorstellung der 'Apartheid' der einzelnen kulturellen Sphären - 'großbürgerliche' Oper, 'plebejisches' Volkstheater - hat dieser Einschränkung des Blickwinkels Vorschub geleistet. Ziel dieses Projekts ist es hingegen, die aufgrund der akademischen Arbeitsteilung meist getrennt betrachteten kulturellen Phänomene nach Gemeinsamkeiten und Differenzen zu befragen. Das Konzept vermeidet bewußt eine Ausdehnung der Untersuchung auf das spätere 19. und das 20. Jahrhundert -jene Zeit also, in der das Wort "Antisemitismus" eigentlich erst geprägt und zum Schlagwort und Programm politischer Massenbewegungen wurde. Vielmehr geht es darum, die unmittelbare Vorgeschichte des politischen Antisemitismus in jener Gattung zu erforschen, die -nach Hannah Arendt als "die politische Kunst par excellence" gelten kann: dem Theater.
Gerhard SCHEIT, Dr. phil., geb. 1959, studierte Musik an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien und Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien sowie Philosophie und Germanistik an der Freien Universität Berlin; er lebt als freier wissenschaftlicher Autor in Wien. Publizierte zahlreiche Arbeiten im Bereich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Theaterwissenschaft und der Musiksoziologie. Im Rahmen seines Junior Fellowships wird Scheit mit Jost Hermand zusammenarbeiten.
zuletzt Dramaturgie der Geschlechter. Über die gemeinsame Geschichte von Drama und Oper. Frankfurt am Main 1995 (Fischer Literaturwissenschaft).