Genealogien minderer Mimesis. Nachahmen, Nachäffen und die Wissenschaften
In der Moderne ist die Mimesis angeblich überwunden worden, die "Nachahmung der Natur" passt scheinbar nicht zur Idee des schöpferischen Menschen. Hanna Engelmeiers Projekt verfolgt eine alternative Geschichte der Mimesis. Ausgangspunkt hierfür ist der Begriff der minderen Mimesis. Er adressiert in historischer Perspektive die Geschichte der kultur- und medienkritischen Verwerfung oder uneingestandenen Verwendung bestimmter mimetischer Praktiken: Wer ohne erkennbare Eigenleistung Kunst imitiert oder lediglich die Gesten von Wissenschaft nachahmt, tut dies oft, um sich in mehr oder weniger diskreter Weise subversiv zu einem Vorbild zu verhalten. Die mindere Mimesis wird als Gelegenheit zur Verschiebung und Veränderung der kulturellen Codierung des Vorbilds ergriffen. Mimesis wird somit nicht allein als ästhetisches Phänomen verstanden, sondern als kulturkonstitutiver Prozess, der vor allem in zwei Bereichen untersucht werden soll, und zwar in der Weltanschauungsliteratur, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der evolutionsbiologisch informierten Anthropologie entsteht, und in den sogenannten Pseudowissenschaften, die diese Literaturen hervorbringen. Pseudowissenschaft ist gewissermaßen Weltanschauungswissenschaft, die sich zu institutionalisieren versucht; Weltanschauungsliteratur ist gewissermaßen mindere Mimesis von Theorie. Zu fragen ist hierbei insbesondere nach den zeitgenössischen Aktualisierungen dieser Konzepte. Die antiakademischen Affekte, die dabei zum Tragen kommen, und die mimetischen Prozesse, die sie steuern, untersucht dieses Projekt.
Hanna Engelmeier studierte Philosophie und Kulturwissenschaft in Berlin. Von 2008 bis 2009 war sie Redakteurin im Ressort Kultur bei „Vanity Fair“. Als Stipendiatin der Andrea-von-Braun-Stiftung promovierte sie von 2009 bis 2014 über die Entwicklung der deutschen Anthropologie in der frühen Darwin-Rezeption, der Fokus lag dabei auf den Debatten über die Verwandtschaft von Menschen und Affen. Im Wintersemester 2010 war sie Visiting Scholar an der University of California in Berkeley. 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Medien und Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche in Weimar. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Koordinatorin der DFG-Forschergruppe „Medien und Mimesis“ in Bochum, wo sie im Teilprojekt „Mindere Mimesis“ als Postdoc forscht. Als Mitglied der von der Mercator-Stiftung geförderten Global Young Faculty arbeitet sie von 2015 bis 2017 in einer Arbeitsgemeinschaft mit, die sich mit den Verbindungen von Industrie und Wissenschaft auseinandersetzt.
Der Mensch, der Affe. Anthropologie und Darwin-Rezeption. Köln/Wien 2016; „Objekt Offen, Publikum im Kasten“. Die Medienanthropologie Gabriel von Max’, in: Christiane Voss, Lorenz Engell (Hg.), Mediale Anthropologie, München 2015, S. 83–105; Die Gretchenfrage, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 2015, Jg. 69, H 793, S. 30–39.
Hanna Engelmeier, derzeit IFK_Research Fellow, ansonsten wissenschaftliche Koordinatorin der DFG-Forschergruppe" Medien und Mimesis", schreibt für den "Merkur" ihre Eindrücke zu ihrem Wienaufenhalt auf. Hier nun ihr Brief 2.
Siehe: http://www.merkur-zeitschrift.de/2016/04/13/brief-aus-wien-ii-in-der-kirche/
Dienstag, 28. September 2021, 18.00 Uhr via Zoom
Dass Lesen weit mehr ist als das sinnstiftende Erfassen von Buchstaben, zeigen die vier Übungen, die dieser Essay versammelt. Sie führen das Lesen zusammen mit dem Schreiben, dem Hören, dem Beten und dem Genießen.
Der heute nur wenigen bekannte Franz Xaver Kappus regte Rilke durch seine Briefe zu einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Dichtens an, die bis heute Schreibende (und Lesende) inspiriert. Die Tonaufnahme von David Foster Wallaces Rede »This Is Water« und ein Hörspiel zu Walt Disneys Aristocats zeugen von einem Lesen, das Hören ist. Eileen Myles findet als Kind ein Rollenmodell in der Lektüre eines Johanna-von-Orléans-Comics und Adorno gönnt sich neben Kritik auch mal Eiscreme. In dieser Engführung von Kritik und Enthusiasmus, Kanon und Pop, Alltag und Ästhetik, Persönlichem und Theoretischem offenbart sich mit jedem weiteren Kapitel genau das, was der Titel verspricht: vier Übungen, die klug, voller Witz und doch mit Ernsthaftigkeit Text und Nebentext feiern und sich zu einer leisen, aber unbedingten Leseempfehlung für schwere und nicht ganz so schwere Zeiten fügen.
Im Gespräch mit Maren Haffke stellt Hanna Engelmeier ihr Buch vor. (Text: Matthes & Seitz Verlag)
Berlin hat ein neues Festival: Die translationale berlin feiert, was Literatur zu Weltliteratur macht. Drei Tage lang sind internationale Übersetzer:innen, Autor:innen, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen im Collegium Hungaricum Berlin zu Gast.
Wissenschaft treiben heißt Neues schaffen, innovativ sein, schöpfen. Oder? Welche Rolle spielen das “Nachäffen”, Wiederholen, “Aufkochen” und Imitieren dabei, dass die Wissenschaft über ihr eigenes Tun Bescheid weiß? Wie kommen diese Praktiken in Wissenschaftsparodien zum Tragen? Hanna Engelmeier schaut sich dazu die 20-jährige Geschichte der Sokal-Affäre an.
Hanna Engelmeier, IFK_Research Fellow im Sommersemester 2016, präsentiert ihre neueste Publikation "Der Mensch, der Affe", die im Böhlau Verlag publiziert wird.