Spuren eines Phantoms: Konfigurationen des Hippokrates im frühneuzeitlichen Europa
In der öffentlichen Anschauung verkörpert Hippokrates noch immer den Anfang aller wissenschaftlichen Medizin im abendländischen Europa, Ursprung einer Heilkunde, an deren begrifflichen und anthropologischen Vorgaben die heutige Medizin zu partizipieren glaubt. Als kultureller Erinnerungsspur steht ihr das philologisch-historiographische Faktum gegenüber, daß wir zwar über eine Anzahl von Texten, das Corpus Hippocraticum, verfügen, daß wir aber weder zur Person des vermeintlichen Autors noch über seine Autorschaft selbst im Falle aller circa 56 zum Corpus Hippocraticumgehörenden Schriften zuverlässige Erkenntnisse besitzen.
Auf der Suche nach Figuren des Europäischen wird untersucht, inwieweit und auf welche Weise Hippokrates zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu einer europäischen Figur wurde. Hierbei wird es um den jeweils zeitgenössisch spezifischen Umgang mit der Figur des Hippokrates gehen, um ihre Repräsentationen, um die Praktiken unterschiedlicher Erinnerungskulturen und Gedächtnisformen, die sich einer Spur bemächtigten, von der man realiter kaum mehr als die Lebensdaten kannte. Gerade die im Grunde nicht existierende Verfügbarkeit dieser Person, die sie dadurch disponierbar werden ließ, auf der einen Seite und die im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Texten dieser Zeit große Überlieferungsdichte der mit seinem Namen verbundenen Schriften auf der anderen Seite ließen das Entstehen eines gewaltigen Denk- und Repräsentationsraums zu, der von den ZeitgenossInnen erkannt und in unterschiedlichen Zusammenhängen auf unterschiedliche Weise genutzt wurde.
Privatdozent für Geschichte der Medizin an der Universität Rostock
U.a. Klio und Hippokrates. Eine Liaison littéraire des 18. Jahrhunderts und die Folgen für die Wissenschaftskultur bis 1850 in Deutschland, Stuttgart (im Erscheinen)