Der Zylinder, Hauptfigur des 19. Jahrhunderts
Alle entscheidenden technischen Innovationen des neunzehnten Jahrhunderts gründen auf der Form des Zylinders. Dies gilt für die Dampfmaschine und ihre Nachfahren ebenso wie für das Panorama, die Rotationsdruckmaschine und den Fonografen etc. In meinem Projekt gehe ich der Frage nach, wie dieses Phänomen verstanden und dargestellt werden kann.Eine erste Tiefendimension erhält diese Frage, wenn der Zylinder mit anderen epochalen Erscheinungsformen in Verbindung gesetzt wird. Hier ist zunächst an die Insistenz auf der Geradlinigkeit zu denken, mit der Malerei und Architektur, aber auch Logik und Rhetorik seit der Renaissance die Aufgabe der Repräsentation bestimmen. Ebenso auffällig ist die, allerdings symbolische, Allgegenwart der Kugel in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts, die sich u. a. in den Denkmälern der Französischen Revolution ausdrückt.Mit diesem formalen und historischen Rüstzeug gilt es dann, die Frage der Klassifizierung der zylindrischen Phänomene anzugehen. Ausgehend von der klassischen Einteilung der Maschinen in Bewegungs-, Transmissions- und Werkzeugmaschine werden die Zylinder des Realen (Dampf- und Verbrennungsmotoren), des Symbolischen (Druck- und Aufzeichnungszylinder) und des Imaginären (Panorama, Fortsetzungsroman, früher Film) in ihrer Eigenart und Verbindung darzustellen sein. Dabei werden Ordnungsangebote verschiedener Theorieansätze, wie etwa der Medientheorie, des wissenschaftshistorischen Konstruktivismus und der Kulturhermeneutik der Prüfung ihrer Belastbarkeit unterzogen. Hier wird sich zeigen müssen, ob der im Titel benutzte Begriff der Figur ausschließlich in seiner rhetorischen Bedeutung verwandt wird, oder ob seiner geometrischen Dimension neue Bedeutung zugesprochen werden muss. In Hinblick auf das ebenfalls im Titel anklingende Projekt Walter Benjamins wird sich endlich die Frage stellen, ob eine Archäologie des 19. Jahrhunderts ohne Ausrichtung auf eine messianische Zeit möglich ist.
Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Northwestern University in Evanston
U. a.: gem. mit Jürgen Trabant (Hg.), Humboldt, Hermeneutik, Poetik (Kodikas/CODE XI), No. 1/2, 1988; Epigenesis. Naturphilosophie in Wilhelm von Humboldts Sprachdenken, Paderborn 1993; Self-Generation. Biology, Philosophy, and Literature Around 1800, Stanford 1997; Desorientierung: Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner, Göttingen 2003.