Visuelle, ekstatische und alimentäre Formen der Gemeinschaft
Die politische Philosophie der Neuzeit ist zweifellos von der Vorstellung der juristischen Institutierung von Staat und Gesellschaft beherrscht. Doch es gibt eine Insuffizienz des rechtlichpolitischen Modells in Bezug auf sich selbst zu verzeichnen, die den Rekurs auf andere Aspekte der Staats- und Gesellschaftsbildung erforderlich macht: So weist etwa die Bild- und Personentheorie von Thomas Hobbes auf die Unverzichtbarkeit der Inszenierung und Maskierung der souveränen Gewalt hin. Kants Kritik der Tischgesellschaft liefert ein Paradigma für die nichtkriegerische Bewältigung von Konflikten, das die alimentäre kosmopolitische Hostilität als ein Supplement des ewigen Friedens empfiehlt. Diese kaum merkliche Erosion des rechtsphilosophischen Konstrukts des Gesellschaftsvertrages (für die sich auch Belege bei Locke oder Rousseau finden lassen) erfährt mit der ethnologischen Erforschung der "Gesellschaften ohne Staat" im 19. Jahrhundert eine externe Forcierung und macht die Frage der Gemeinschaft jenseits des zoon politikon und diesseits des Kontraktualismus dringlich. Robertson Smith, Durkheim, Mauss, Nietzsche, Freud und Lévi-Strauss greifen auf rituelle Besessenheitszustände und/oder alimentäre Praktiken zurück, um das Rätsel der für Europa fremden Formen von Gemeinschaft zu lösen. Diese Übersetzungsversuche lassen sich nicht auf das christliche System der communio reduzieren. Sie artikulieren vielmehr fremdkulturelle Geltungsansprüche, die das eigene Staats- und Gesellschaftsverständnis infrage stellen und ein anderes Denken von Sozialität erwirken. Zum einen könnten sich diese Konzepte für die Erfindung/Kultivierung neuer Essensvermögen und Hostilitäten als fruchtbar erweisen. Zum anderen gilt es, die in Besessenheitszuständen produzierten inneren und äußeren Bilder von den Bildern der faschistoiden Massen mit Blick auf die Frage zu unterscheiden, ob sich in den segmentären Gesellschaften demokratische Versionen der effervescence ausfindig machen lassen.
Neuere Bücher: (Hg. zusammen mit Christoph Jamme), Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist 2002; (Hg. zusammen mit Steffi Hobuß, Ulrich Lölke), Konversionen. Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive, New York, Amsterdam 2004; Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München 2005 (im Erscheinen).
«Sadismus mit und ohne Sade», Iris Därmann
Lecture, 26 Apr 2022, 20:00
Im Mittelpunkt des Vortrags steht die Frage nach der Differenz zwischen der alten Grausamkeit und der neuen kolonialen Gewaltlust. Sind die genealogischen Untersuchungen Friedrich Nietzsches und Michel Foucaults in besonderer Weise dazu geeignet, um diese Frage zu profilieren?
Vortrag in der Reihe Psychoanalytische Kulturwissenschaft