Ohne Zensur kein Kulturprozess. Sans la censure pas de processus de civilization?
Erst 1862 wird das Presserecht der Habsburger auf liberale Grundlagen gestellt. Im Staatsgrundgesetz von 1867 wird die Pressefreiheit verankert. Somit ist die Forderung der 1848er Liberalen nach der Beseitigung der Zensur erfüllt. Doch macht Karl Kraus die Entlarvung der Selbstzensur, die innerhalb der Zeitungsredaktionen erfolgt und sich ebenso verheerend wie die politische Zensur im Vor- und Nachmärz auswirkt, zum zentralen Thema seiner Kritik an der Presse.
Die Theaterzensur wird in der Regierungszeit von Ministerpräsident Ernest von Koerber (1900–1903) neu organisiert und rationalisiert. Im Vordergrund steht der Schutz der guten Sitte und der kulturellen (ästhetischen und moralischen) Grundwerte.
Allerdings bleibt die „modernisierte Zensur“ im sensiblen Bereich des Antisemitismus ganz besonders blind. Angeblich wird keine Beleidigung der Religion zugelassen, und doch zeigt sich die Justiz besonders nachsichtig, wenn es sich um Angriffe gegen das Judentum handelt.
Die Reevaluierung des Begriffs Zensur in Freuds „Kultur-Analyse“ ist auffällig. In der „Traumdeutung“ wird der Zensur eine positive Rolle zuerkannt. Seit Freuds Werk „Zur Einführung des Narzissmus“ wird die Zensur vollends mit dem moralischen Bewusstsein gleichgesetzt.
Vom Nutzen und Nachteil der Zensur für die moderne Kultur: Diese Diskussion durchzieht verschiedene Felder der Wiener Gesellschaft und Kultur. Die Frage bleibt für die kulturwissenschaftliche Diskussion zentral.
Jacques Le Rider ist Directeur d’études an der École Pratique des Hautes Études (EPHE, Fachbereich Geschichte und Philologie, Lehrstuhl unter dem Titel: L’Europe et le monde germanique, époque moderne et contemporaine –Europa und die germanische Welt in der Frühen Neuzeit und der neueren Geschichte).
(u. a.): Fritz Mauthner. Scepticisme linguistique et modernité, Paris 2012; L’Allemagne au temps du réalisme (1848–1890), Paris 2008; Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle Époque, Wien 2006; Malwida von Meysenbug. Une Européenne du XIXe siècle, Paris 2005; Freud– von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne, Wien 2004.
Vortrag im Rahmen der Wiener Vorlesungen
Jacques Le Rider dekodiert den Briefwechsel zwischen dem Bühnenautor Arthur Schnitzler und dem Feuilletonisten Theodor Herzl als eine divergierende Verhandlung über die „Judenfrage“. Herzl versucht sich zu diesem Zeitpunkt als Bühnenautor und ist in seiner Haltung noch lange kein Zionist.