Patchwork Mittelalter
Das europäische Mittelalter gilt als christlich. Seit der Spätantike ist im Westen wie im Osten des römischen Reichs das Christentum Staatsreligion. Die Gesellschaft ist durch das Neben- und Ineinander geistlicher und säkularer Institutionen gekennzeichnet. Deren Konkurrenz entlädt sich zuerst im sogenannten Investiturstreit zwischen päpstlicher und kaiserlicher Macht. In den daraus erwachsenden Auseinandersetzungen bilden sich die säkularen europäischen Kulturen heraus. Das Mittelalter ist demgegenüber durch die Einheit, die unauflösliche Durchdringung von „Geistlichem“ und „Weltlichem“ gekennzeichnet. So lange Zeit der Konsens. Demgegenüber ist die neuere Mediävistik zunehmend auf die „Pluralität“ mittelalterlicher Lebensordnungen gestoßen, auf die unabgestimmte Vielfalt konkurrierender Normensysteme, Verhaltensmuster und Gesellschaftsentwürfe. Deren Geltung muss von den Wortführern mittelalterlicher Kultur – den verschiedenen Gruppen im Adel, bei Hof, im Land, in Kathedralschulen, Hof- und Weltklerus, Mönchtum – immer wieder neu ausgehandelt werden. Das Ergebnis sind hybride kulturelle Formationen. Das gilt auch für die höfische Kultur um 1200, die meist als Integration geistlicher und weltlicher Komponenten beschrieben wird. Die Opposition „geistlich“ vs. „weltlich“ ist freilich viel zu einfach; sie unterstellt überdies immer schon jene neuzeitliche Trennung, die doch im Mittelalter aufgehoben sein soll. An ausgewählten Beispielen aus der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts sollen daher Vielfalt, Dynamik und Antagonismen kultureller Austauschprozesse untersucht werden. Herauszuarbeiten sind die Spannungen und immanenten Widersprüche höfischer Konsensmodelle, ihre Auseinandersetzung mit religiös-rigoristischen oder vorhöfischen Gegenmodellen. Es geht um die diskursiv nie voll zu bewältigende, allenfalls narrativ auszustellende aporetische Struktur eines Gesellschaftsentwurfs für eine christlich zu pazifizierende, doch säkulare Kriegerwelt.
Jan-Dirk Müller studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an den Universitäten Wien, Tübingen und Köln und habilitierte sich mit einer Arbeit über „Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I.“. Er war Professor am Institut für Ältere Sprache und Literatur der Universität Münster, Professor für Ältere deutsche Literatur/Mediävistik an der Universität Hamburg und Gastprofessor an der Washington University in St. Louis. Von 1991 bis 2009 hatte er den Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender der Mittelalterkommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
(u. a.): Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin 2010; Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007; gem. mit Manuel Braun, Corinna Dörrich, Udo Friedrich, Christoph Petersen, Ute von Bloh, Armin Schulz (Hg.), Minnesang und Literaturtheorie, Tübingen 2001; Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998; Jan-Dirk Müller (Hg.), Die Romane des 15. u. 16.Jahrhunderts: Melusine, Hug Schappler, Fortunatus, Magelone, Knabenspiegel, Faust – aus den Quellen ediert und kommentiert, Frankfurt/Main 1990.
Einer der Versromane von Chrétien de Troyes, des Begründers des höfischen Romans in der altfranzösischen Literatur, galt Wolfram von Eschenbach als Vorlage für seinen „Parzival“, und dieser wiederum als Schablone für Wagners gleichnamige Oper. Jan-Dirk Müller konzentriert sich in seinem Vortrag auf das Fehlen der „Mitleidsfrage“ beim ursprünglichen Schöpfer der Figur Parzival und auf die Weltentwürfe zwischen Ritterlich-Höfischem, angeborenem Adel und christlicher Ethik.