Die narrative Konstruktion der Identität
In den letzten Jahren hat vor allem im angelsächsischen Wissenschsaftsbereich eine Entwicklung stattgefunden, die mit den Stichworten "discursive turn" oder "narrative turn" bezeichnet worden ist. In verschiedenen geistes-, sprach- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen sind - fächerübergreifend - kulturtheoretische Fragestellungen verfolgt worden, bei denen die Funktion komplexer sprachlicher Diskurse für das menschliche Leben im Mittelpunkt steht.
Dabei hat der narrative Diskurs, die Bedeutung und Funktion des Genres der Erzählung, besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Interesse richtet sich auf die ganze Spannweite der erzählenden Sprache: von literarischer Fiktion zu wissenschaftlicher Beschreibung, vom religiösen Traktat zur juristischen Urteilsbegründung, von der politischen Rede zur intimen Erklärung, vom Dialog zum Monolog.
So verschiedenartig ihre Formen in unterschiedlichen Kulturen und historischen Epochen sein mögen, die Narration erweist sich als ein universales Phänomen, das mannigfaltigen sozialen und individuellen Funktionen dient. Der narrative Diskurs ist ein außerordentlich sensibler semiotischer Apparat für Veränderungen und Krisen in den mythischen, ideologischen oder historischen Selbstreflektionen einer Kultur. Der Historiker und Narrationstheoretiker Hayden White sieht hierin einen Grund dafür, daß "quer durch das ganze Spektrum der Geisteswissenschaften im Laufe der letzten zwanzig Jahre ein universelles Interesse am Wesen der Erzählung, an ihrer epistemischen Autorität, ihrer kulturellen Funktion und ihrer generellen Signifikanz" zu beobachten ist (Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt: Fischer 1990, S. 9; eng!. 1987).
Traditionelle Gegenstandsbereiche der Psychologie, Soziologie und Anthropologie wie Interaktion und Kommunikation, Gedächtnis und Erinnerung, Selbst und Identität haben aus dieser Warte eine neue Beleuchtung erfahren. So sind zahlreiche empirische Studien zur Bedeutung des Über-sichselbst- Sprechens - etwa in Gesprächen, mündlichen oder schriftlichen biographischen Selbstdarstellungen, öffentlichen Diskursen - entstanden, in denen sich Sprache nicht nur als Mittel oder Ausdruck einer vorgegebenen Identität erweist, sondern als das eigentliche Medium und Material, in dem Individuen ihre Identität entwerfen. Aus der Untersuchung solcher entwürfe hat sich, wie Theodore R. Sarbin es nennt, eine eigene "narrative psychology" entwickelt (Narrative Psychology: The Storied Nature of Human Conduct. New York: Praeger 1986).
Das Besondere dieser Untersuchungen, an die meine Arbeit in gewisser Hinsicht anschließt, besteht in zwei Annahmen. Die erste besagt, daß Sprache nicht nur als Ausdruck eines vorgängigen Gehalts fungiert, nicht nur Expression einer- präsemiotischen - Substanz ist; die zweite, daß dies auch und gerade für menschliche oder personale Identität gilt. Behauptet wird also sowohl der Konstruktionscharakter von Identität als auch die zentrale Rolle, die der Sprache dabei zukommt.
Identität - darunter verstehe ich das, was Menschen für ihr eigenes Selbst in der Zeit halten, der Zeit ihres Lebens wie ihrer sozialen und geschichtlichen Welt. Indem sie sich zu sich selbst verhalten, bilden sie ihre Identität heraus. Sie werden gewissermaßen zu Historikern ihrer selbst, 'schreiben' die Geschichte ihres Selbst, ihre individuelle Historie. Doch so besonders und einzigartig ein Mensch seine Identität verstehen und empfinden mag, sie erweist sich letztlich immer als Ergebnis eines zutiefst kulturabhängigen Prozesses - eines Prozesses des sozialen Handeins und des Aushandeins von Bedeutungen und ihren perspektivischen Wahrnehmungen.
Dabei sind es die Sprache und ihre diskursiven und narrativen Mittel, die das Individuum und seine Psyche am stärksten in einen kulturellen Bedeutungszusammenhang einbinden. Mit dieser Auffassung lehne ich mich an das Spätwerk Ludwig Wittgensteins an, und zwar in einer Lesart, wie sie etwa in den Arbeiten des in Oxford und Washington lehrenden Philosophen, Sozialpsychologen und Linguisten Rom Harre vorgeschlagen worden ist (Personal Beiing, Oxford: Blackwell 1983; Physical Being, Oxford: Blackwell 1992; Social Beiing, Oxford: Blackwell 1993).
In meiner Untersuchung verfolge ich nun diese kulturelle 'Einbindung' des individuellen Bewußtseins dort, wo sie sich vielleicht am intimsten zeigt: beim Sprechen über die eigene Lebensgeschichte, bei der diskursiven Darstellung des eigenen Ichs. Hier, so meine These, vollzieht sich die narrative Konstruktion des Selbst, die 'Geschichtsschreibung' eines Menschen. Hier entsteht das, was ich Identität genannt habe: keine Substanz, sondern ein Prozeß, kein 'Kern', sondern eine Baustelle, auf der ständig gearbeitet wird.
Es macht die narrative Konstruktion so kompliziert (und manchmal nur schwer überhaupt als Konstruktion durchschaubar), daß sich in ihr immer eine bestimmte Synthese verschiedener individueller und kultureller Zeitstrukturen vollzieht. Studiert man diese Synthese genauer, so wird eine grundlegende Eigenart des menschlichen Zeitverstehens deutlich. Zeit wird nämlich erst dadurch zur menschlichen Zeit, zur bedeutungsvoll gelebten Zeit des menschlichen Lebens, indem sie erzählt wird. Dies ist die aus der phänomenologischen Tradition erwachsene These des Philosophen und Sprachwissenschaftlers Paul Rica:ur (Zeit und Erzählung, 3 Bde., München: Fink 1985, 1989, 1991). Sie spielt auch für meine Analysen- insbesondere, wenn man sie unter einem hermeneutischen Gesichtspunkt betrachtet - eine wichtige Rolle.
Die narrative Konstruktion der Identität ist also ein Vorgang, der tendenziell unabschließbar ist. Er vollzieht sich als Prozeß ständiger Rekonstruktion der Lebensgeschichte eines Menschen im Licht wechselnder Bedeutungen und Sinngebungen. So haben wir es hier mit einem höchst individuellen Geschehen zu tun, das von der Partikularität der jeweiligen Erfahrungen bestimmt wird. Zugleich jedoch liegen ihm immer die narrativen Muster eines bestimmten kulturellen Kanons zugrunde. In diesem Spannungsverhältnis zwischen dem diskursiv-narrativen Kanon und der historischen Individualität jedes gelebten Lebens vollzieht sich der "autobiographische Prozeß". Damit verwende ich ein Konzept, das von dem Psychologen Jereome Brunner, einem der Initiatoren des narrative turns und Begründers der cultural psychology, entwickelt wurde (Acts of Meaning, Cambridge, MA: Harvard University Press 1990).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stütze ich mich auf eine Reihe von theoretischen und empirischen Untersuchungen zum autobiographischen Prozeß. Solche Untersuchungen sind insbesondere in Disziplinen und Forschungsgebieten entstanden, die selbst erst in jüngster Zeit institutionelle Gestalt gewonnen haben - so etwa die cultural psychology, die (cross-cultural) psychological anthropology, die linguistic anthropology, die linguistische, literaturwissenschaftliche und soziologische Diskursforschung, sowie die narrativen (oder narratologischen) Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Das methodische Kriterium, das mich dabei am meisten interessiert, ist durch das Konzept der "dichten Beschreibung" des Anthropologen Clifford Geertz markiert (Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983).
Die Diskussion meiner Thesen sowie weiterer in der Forschung aufgeworfener Fragestellungen verbinde ich nun mit der exemplarischen Analyse eines Einzelfalls. Sie bildet den empirischen Hauptteil meiner Untersuchung. Es geht dabei darum, die narrative Konstruktion der Identität eines Menschen zu studieren, mit dessen autobiographischem Prozeß ich mich vor zwei Jahren zu beschäftigen begonnen habe. Während dieser Zeit habe ich eine Reihe von primären Daten erhoben (etwa in Form von aufgezeichneten und protokollierten Gesprächen und Interviews) und weite biographische Details recherchiert. Sie lassen die wechselhafte Lebensgeschichte eines österreichisch-britischen Architekten erkennen, der Sohn einer Schottin und eines Wiener Künstlers, der vor vierzig Jahren aus Wien nach England emigriert ist. Einer der roten Fäden dieser Geschichte scheint seine bildnerisch-architektonische Arbeit zu sein, die auf eigenartige Weise zugleich eine Auseinandersetzung mit dem malerischen Werk des Vaters darstellt. Dieser war in den zwanziger und dreißiger Jahren ein aktiver Kommunist, seit dem "Anschluß" Österreichs an Deutschland ein Mitglied der NSDAP. Die 'Erzählung" dieses Lebens (bzw. seine verschiedenen Geschichten und Fragmente) bilden den Hauptcorpus der Analyse.
Indem ich mikroanalytisch vor allem die semantischen Spuren des autobiographischen Prozesses verfolge, geht es mir darum, Einblick zu nehmen in den modus operandi eines autobiographischen Prozesses, in dem die Identität eines Menschen erzählt und im Erzählen neu 'gelebt' wird. Von einer solchen Betrachtung des 'Neuverfassens' der Identität erhoffe ich mir nicht zuletzt weitere Aufschlüsse über das Spannungsverhältnis zwischen der historischen Singularität einer individuellen Lebensgeschichte und dem narrativen Kanon der Kultur.
Brockmeier ist Universitätslektor am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck und Visiting Senior Member of Linacre College, University of Oxford.
Neuere Publikationen: Am philosophischen Rand der Sprache. Die Natur der sinnlichen Gewißheit in Hegels .. Phänomenologie des Geistes". In: Hege! Jahrbuch 1990 . "Reines Denken". Zur Kritik der teleologischen Denkform (Pure thought. A Critique of the Teleological Form of Thinking). Amsterdam und Philadelphia: B.R. Grüner- John Benjamins Publishing Co. 1992. Liberales Bewußtsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur. Frankfurt am Main: Fischer Verlag (erscheint 1994/95).