Die Ethnologie und die Rekonstruktion traditioneller Ordnungen
Im Zusammenhang mit den politischen Autonomiebestrebungen indigener Gesellschaften ist es in den letzten Jahrzehnten weltweit zu einer Wiederentdeckung und Revitalisierung der Traditionen gekommen, die unter den Bedingungen der kolonialen Fremdherrschaft und des staatlichen Binnenkolonialismus entweder gewaltsam zerstört oder systematisch unterdrückt worden waren. Da in vielen Fällen nicht nur die alten Institutionen, Wert- und Normensysteme, sondern auch die oralen Überlieferungsformen zum Erliegen gekommen waren, sind die Angehörigen der entsprechenden ethnischen Gruppen bei ihren Rekonstruktionen heute paradoxerweise auf die Dokumentationen angewiesen, die von Reisenden, Missionaren und Ethnologen im 19. und frühen 20. Jahrhundert angefertigt worden sind. Der Umgang mit den historischen Quellen erfolgt dabei durchaus selektiv. Ausgewählt wird vor allem das, was dem Bild einer idealisierten Vergangenheit entspricht. Andere Züge werden dagegen ausgeblendet oder als vorurteilsbeladene Erfindungen abgetan. Wie sich die Konstruktionen von Tradition zum Wissen der Ethnologie verhalten, wie gesichert dieses Wissen tatsächlich ist und welche Konsequenzen, auch ethischer Art, sich durch seine Inanspruchnahme für das Fach ergeben, soll an ausgewählten Beispielen untersucht werden.
Karl-Heinz Kohl ist Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Direktor des Frobenius-Instituts und o. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2001/2002 lehrte er als Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York. 2007 wurde er zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde gewählt.
(u. a.): Die Macht der Dinge, München 2003; New Heimat, New York 2001; Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden, 2. Auflage, München 2000; Der Tod der Reisjungfrau, Stuttgart 1998; Entzauberter Blick, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1986.
Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Karl-Heinz Kohl, langjähriges Mitglied des International Advisory Board des ifk, wird von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem hodchdotierten Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet. Ein kleiner Auszug aus der Begründung: »Sein Werk kreist um die Rekonstruktion des Verhältnisses der Europäer zu den indigenen Kulturen von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne. Ob er als Feldforscher in Ostindonesien die Nacherzählung lokaler Schöpfungsmythen als Erkenntnisinstrument einsetzt, [...] stets lebt seine Sprache von der Vermittlung zwischen Reflexion und Anschauung.« Das ifk gratuliert herzlich!