Die Metropole als innere Erfahrung in der Kunst des 20. Jahrhunderts
Hinter dem Versuch der klassischen Avantgarde, den Begriff der Kunst ins Grenzenlose auszuweiten bzw. das Leben selbst in eine Art "objet trouvé" umzuwandeln, verbarg sich u. a. der Wunsch, sich dadurch von der anthropozentrischen Sehweise der neuzeitlichen abendländischen Kunst zu befreien. Das Ausweiten der Sinne bzw. der Hang zu einer Kunst. die nur wenig mit der "Netzhaut" zu tun hat, implizierte die Vermutung, der Mensch könnte seine eigenen Schranken überwinden. Jakob Böhmes Gedanken über die Sinneslust oder William Blakes Theorie des Sehens bzw. sein Angriff gegen den "Käfig der Sinne" zeugen u. a. auch von der inneren Verwandtschaft zwischen Avantgarde und abendländischer Mystik.
Das Individuum, das sich innerlich zum Absoluten steigert, möchte alles um sich einverleiben. So wird schon in der Romantik u. a. auch die Metropole aus einem vorwiegend neutralen Raum zum subjektiven Schauplatz, der nicht mehr als bloße Kulisse für das Handeln und Tun dient. An Beispielen von Künstlern aus dem 20. Jahrhundert wird gezeigt, wie die Großstadt zur Materie einer Metakunst wurde. Der russische Theatermacher der Vorkriegszeit Nikolai Jevreinoff hat z. B. durch das "Massentheater" die Großstadt selbst zur Bühne der Aufführungen gemacht und durch die Theorie des Monodramas die spätere Fluxus-Bewegung sowie Werke von Vertretern der "urban mythology" antizipiert. Die zeitgenössische französische Künstlerin Sophie Calle hat durch ihre multimedialen Werke die Großstadt zum Spiegelbild der Psyche verwandelt. Beide Beispiele zeugen davon, daß, obwohl die Frage der Identität bzw. Persönlichkeit in radikal neuer (postmoderner) Weise aufgeworfen wird, diese Fragestellung dennoch nicht auf ihre traditionellen (prämodernen) Wurzeln verzichten kann.
Schriftsteller und Dozent für Komparatistik an der ELTE-Universität, Budapest
U.a. auf Deutsch: Das Schweißtuch der Veronika. Museumsspaziergänge, Frankfurt/M. 2001; (Hg.) Zeitgenössische Kunst aus Ungarn, München 1999; Heinrich von Kleist: Im Netz der Wörter, München 1999.
László F. Földényi war IFK_Visiting Fellow im Sommersemester 2005 und hielt die 7. Carl E. Schorske Lecture zum Thema "Wahrheit erlügen - Biografie an der Schwelle von Dichtung und Wahrheit. Das IFK_Team gratuliert.