Raum und Erzählen – kulturanthropologische Erkundungen eines vernachlässigten Verhältnisses
Unser heutiges Erzählverständnis ist ein Kind des Strukturalismus. Und während dieser das Erzählen in seinen operationalen Einheiten und systemischen Grundmustern begreifbar machte, hat er dessen dynamische Eigenschaften schlicht ausgeklammert. Doch Geschichten entfalten sich in der Zeit und richten sich in den Raum, an einen Zuhörer. Und während das Verhältnis von Zeit und Erzählen auch aus anthropologischer Sicht schon gut erforscht ist – Erzählen als Anleitung, das menschliche Dasein in seiner Zeitlichkeit/Endlichkeit zu begreifen –, galt das Verhältnis von Raum und Erzählen bislang als unwichtig. Doch nun gibt ein neues Interesse an Raumfragen Anlass, es grundlegend zu überdenken. Denn wenn der Raum heute nicht mehr als bloße Bühne für die dynamischen Handlungen der Zeit angesehen, d.h. wenn Raum selbst zum Akteur wird, dann gilt es zu fragen, wie diese neue Produktivität des Raumes sich mit der des Erzählens kreuzt. Und es gilt zu erkunden, was das Erzählen dafür leistet, die räumliche Bedingtheit des menschlichen Daseins zu bewältigen.
Laura Bieger ist Professorin für amerikanische Literatur und Kultur an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zuvor unterrichtete und forschte sie an der Freien Universität Berlin, der University of California at Berkeley und der Universität Wien. Ihr Buch Ästhetik der Immersion (transkript 2007) beschäftigt sich mit urbanem Raum, der die Schnittstelle von Welt und Bild zum Gegenstand von ästhetischer Erfahrung macht. In ihrem aktuellen Buchprojekt entwickelt sie eine räumlich und anthropologisch versierte Erzähltheorie und liest mit dieser amerikanische Romane aus vier Jahrhunderten.
No Place Like Home; or, Dwelling in Narrative, New Literary History, Heft 46.1., 2015; The Need for Narrative and the Limits of Narratability in Charles Brockden Brown’s Edgar Huntly, in: Winfried Fluck und Donald Pease (Hg.), Towards a Post-Exceptionalist American Studies (= REAL 30, 2014); „Freedom, Equality, Beauty for Everyone“. Notes on Fantasizing the Modern Body, in: American Studies – Amerikastudien, Heft 57.4., 2012; Ästhetik der Immersion. Raumerleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007.
Was findet der Mensch im Erzählen? Eine Anleitung zum Leben in der Zeit und Trost im Angesicht des Todes, so oder so ähnlich haben Kulturanthropologen diese Frage bislang beantwortet. Doch hat Erzählen nicht ebenso viel damit zu tun, das Leben im Raum zu bewältigen – von der Notwendigkeit der Orientierung bis hin zur heimatlichen Verortung?