Einsames Genie oder antisoziales Wesen? Der Autist als Modellmensch der globalen IT-Gesellschaft
Der (männliche) Autist ist ein Repräsentant der modernen IT-Gesellschaft, bestehend aus hoch-funktionalen und hoch-individualisierten Subjekten, die sich sowohl in virtuellen als auch wirklichen Welten dem Existenzkampf stellen müssen. Mit einem Fokus auf seine rationale und systematische Binnenwelt fungiert er einerseits als wissenschaftstheoretisches Gehirnmodell (z.B. in der Robotik), andererseits als ein anthropologischer Idealtypus vom obsessiv leistungsbereiten Arbeitnehmer, der ohne den störenden Einfluss von Gefühlen systematische Aufgaben im Alleingang löst. Er kann scheinbar „Maschinen“ besser verstehen als Menschen. So bewegt sich der Autist imaginär zwischen den Konzepten der Abnormalität, der Genialität, aber auch jüngst – im Hinblick auf die empirischen Daten der Epidemiologie – der Normalität, zumindest im Hinblick auf bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit. Wie wurde und wird dieser ambivalente Idealtypus konzipiert und im Rahmen kultureller Ökonomien popularisiert? Dies ist die zentrale Frage, die den größeren Zusammenhang dieser Forschungsarbeit bildet. Im Forschungsprojekt am IFK wird nach den wenig erforschten Anfängen dieser Typisierung gefragt. Die Spur führt in Form der Autismusforscher Leo Kanner (1896-1981) und Hans Asperger (1906-1980) nach Wien.
Nicole C. Karafyllis ist seit dem Sommer 2010 Professorin für Philosophie an der TU Braunschweig und zusätzlich assoziiert mit der United Arab Emirates University in Al Ain/Abu Dhabi. Nach einem Doppelstudium der Philosophie und Biologie hat sie 1999 in Tübingen promoviert und sich 2006 in Stuttgart habilitiert. 2007 war sie Gastprofessorin für „Cultural Philosophy of Science“ an der Universität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Technikphilosophie, Anthropologie, Ethik und Phänomenologie.
(u. a.): Die Phänomenologie des Wachstums, Bielefeld 2010 [erscheint Ende 2010]; gem. mit Gotlind Ulshöfer (Hg.), Sexualized Brains. Scientific Modeling of Emotional Intelligence from a Cultural Perspective, Cambridge, MA. 2008; Den Leib im Kopf haben, in: Michael Großheim (Hg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie, Freiburg 2008, S. 284–300; Das emotionale Gehirn als neues Geschlechtsorgan, in: DAS ARGUMENT Nr. 273, Sonderheft: Liebes Verhältnisse, S. 210-227; Biologisch, Natürlich, Nachhaltig, Tübingen 2001.
Ein Autist ist schwierig, einsam und egozentrisch. Ein Autist ist ein Mann. Nicole C. Karafyllis erläutert das Wechselspiel von naturwissenschaftlichen und kulturellen Zuschreibungen und hinterfragt auf kritische Art und Weise die Geschlechterzuweisungen auf medizinischer und populärer Ebene.