Die multikulturelle Stadt: Visionen und Imaginationen des (G)Lokalen
Die Idee der multikulturellen Gesellschaft, die sich in den späten 70er-Jahren vor dem Hintergrund der zunehmenden Migration und kulturellen Vielfalt in den europäischen Großstädten allmählich herausgebildet hat, war ein erster Versuch, kulturelle Differenzen und kulturelle Zugehörigkeiten in der modernen Gesellschaft neu zu überlegen. Spätestens in diesem Zeitraum gerät nämlich das zentrale Prinzip der Moderne, die grundlegende Idee des Nationalstaates - die Deckungsgleichheit zwischen Gesellschaft, Territorium und Kultur-, welches die kulturelle (und nationale) Zugehörigkeit von Individuen und Gruppen regelte, immer mehr ins Schwanken. Die Frage der kulturellen Differenz bzw. des Zusammenlebens verschiedener Kulturen ist in den 70er- und 80er-Jahren zu einem zentralen politischen Konflikt der modernen und spätmodernen Gesellschaften geworden. Die grundsätzliche Frage bezog sich darauf, wie die Gesellschaft mit der »anderen« Kultur umgehen soll bzw. wie kulturelle Differenz behandelt werden sollte. Sollten kulturelle Unterschiede gefördert werden oder trägt die Förderung von kulturellen Differenzen zur Isolierung und Ausgrenzung der Zugewanderten bei? Was soll die "Aufnahmegesellschaft" von den Zugewanderten erwarten: die kulturelle Assimilation und die soziale Integration oder aber die Bewahrung und Erhaltung der "ursprünglichen" Kultur? Um diese Fragen um die multikulturelle Stadt und Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten ein ganzer- politischer und wissenschaftlicher- Diskursraum herausgebildet, in dem sich die Ideologie des modernen Nationalstaates und die Ideologie der spätmodernen, transnationalen Gesellschaft begegnet sind. Ziel dieses Projektes ist es, diesen Diskursraum bzw. die im Zuge dieses Diskurses entworfenen Stadtbilder und sozialen Imaginationen in Bezug auf kulturelle Identität und nationale Zugehörigkeit zu analysieren. in dem Projekt geht es also nicht um die alltagsweltlichen Praxen verschiedener ethnischer oder kultureller Gruppen, sondern vielmehr um eine Gesellschaftsphilosophie, die vor allem durch die Visionen und Imaginationen der multikulturellen Stadt repräsentiert ist.
Professor für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Osteuropäische Transformationsprozesse, Ethnologie komplexer Gesellschaften, Stadtethnologie, kulturelle Identität.
U. a. gem. mit Beate Binder / Wolfgang Kaschuba (Hg.): Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts (Köln/Weimar/Wien 2001)