Laborlandschaften. Die Alpen als Medium der Physiologie um 1900
Die Ästhetik des Erhabenen hat konventionalisiert, wie überwältigende Gebirgs-landschaften poetisch zu bewältigen waren, wie gerade Sprachlosigkeit in Wort- und Bilderfluten münden konnte. Winckelmann, der Klassizist, ließ 1760 noch die Fenster seiner Kutsche verhängen, um sich den schrecklichen Anblick des Gotthard zu ersparen. Shelley, der Romantiker, dichtete 1816 wahnsinnig erleuchtet unter den Hängen des Mont Blanc. Seitdem Berge jedoch nicht mehr betrachtet, sondern bestiegen wurden, seit Saussures berühmter Mont Blanc-Expedition 1787, ist die Erfahrung des Erhabenen zum physiologischen Ernstfall mutiert. Saussure und seine Nachfolger mussten am eigenen Leib erfahren, wie ihre romantische Stimmung in Schwindel und Erschöpfung unterging, hatten sie erst die Baumgrenze passiert. Der krönende Moment, die raison d’être aller Strapazen, konnte nicht beobachtet, geschweige denn poetisch kontempliert werden, weil die siegreichen Alpinisten in Schlaf versanken, wenn ihnen nicht Schlimmeres zustieß. Kaum geboren litt die moderne Bergtour unter einem blinden Fleck. An diesem blinden Fleck intervenierten nach 1850 mechanische Bilder: spektakuläre Fotografien vom Gipfel des Mont Blanc, die das zeitgenössische Publikum weniger aufgrund ihres Sujets als durch ihre Pragmatik faszinierten. Ehrfürchtig beugte sich Frankreich über die fotochemischen Beweise vom Aufenthalt der mutigen Operateure in Höhen, von denen bereits Saussure festgestellt hatte, dass sie nicht für Menschen gemacht waren. Statt romantische Erhebung zu symbolisieren, indizierten diese Bilder Mühe. Deshalb gehören sie in dasselbe "Aufsteigesystem" wie die Puls-, Atmungs- und Ermüdungskurven, die Experimentalphysiologen zeitgleich in den Hochalpen registrierten. Auf der Rückseite des bürgerlichen Alpinismus und seines Kraftkults begannen sie, jene blinden Flecken zu erforschen, die den Alpinisten seit Saussure ihre malerische Sicht geraubt hatten: mal des montagnes, Schwindel, Schlafsucht und Ermüdung. Im Zeitalter von Thermodynamik und technischen Medien geriet auch Rousseaus alpine Seelenlandschaft unter die Kategorien von Energie und Lokomotion. Das Projekt untersucht, wie die neuen Bilder das pittoreske Genre in Spuren von Licht und Bewegung übersetzten und das romantische Theater in ein "Laboratorium der Moderne" verwandelten, wie sie Wissenschaft mit Ästhetik und Sensorik mit Motorik vermischten.
M.A., Promotionsstipendiat am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, Studium: Neuere und neueste Geschichte und Philosophie in Freiburg/Br., Köln, Bologna und Berlin
Die Nervensäge. Hundert Jahre Alltag, in: Ästhetik & Kommunikation: Geschichtsgefühl, Jg. 34, Heft 122/123, Winter 2003, S. 63–67; Müde Augen. Physiologische Alpenreisen im fin de siècle, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2004, Preprint 280; Das Laboratorium, in: Alexa Geisthövel, Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne, Campus, Frankfurt/M., 2005, S. 27–36; Aufsteigesysteme 1800–1900, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, 1; Die Stadt, der Lärm, der Ruß. Mechanische Spuren der Psyche, 1885–1895, in: Cornelius Borck, Armin Schäfer (Hg.), Psychographien, Sequenzia, Berlin; Beim Paten. Feltrinelli und die Deutschen, in: Ästhetik & Kommunikation: Mythos BRD.