Walking Artists: der menschliche Gang in den performativen Künsten
In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzt in den Künsten eine Entwicklung ein, die als performative Wende bezeichnet werden kann (Erika Fischer-Lichte). Sie führt zu fundamentalen Umstrukturierungen innerhalb der ästhetischen Systeme: Besondere Kennzeichen sind die Tendenz zum Prozessualen, die Auflösung der Grenzen zwischen den Kunstsparten sowie die Abkehr von mimetischen Darstellungsstrukturen. Die Künste wenden sich zunehmend der Erforschung physischer Phänomenalität und Intensität zu, wobei oftmals elementare Bewegungen und Handlungen des Alltagslebens Gegenstand der Untersuchung sind. Der Körper dient dabei sowohl als Material des ästhetischen Prozesses als auch als Instrument der Wahrnehmung. Im Kontext dieser Entwicklung beginnen sich nicht nur Künstler aus dem Bereich der Performance Art und der bildenden Kunst (Richard Long, Hamish Fulton, Bruce Nauman), sondern auch experimentelle Theatermacher und Dramatiker wie Robert Wilson, Heiner Müller und Samuel Beckett mit Gängen, Tritten und Schrittfolgen zu beschäftigen. So erprobt etwa der Künstler Bruce Nauman in seinen Performance-Arbeiten verschiedene Gangarten am eigenen Körper "Slow Angle Walk", "Walk with Contrapost" und fordert zugleich, in seinen Korridorarbeiten "Performance Corridor", "Live-Taped Video Corridor", den Betrachter zu einer peripatetischen Rezeption auf: Er konzipiert Rauminstallationen, die nur erfahren werden können, indem sie vom Rezipienten, unter Aufgabe der ästhetischen Distanz, betreten, durchschritten, begangen werden. Der Prozess des Gehens scheint eng mit dem Wesen der performativen Ästhetik verknüpft, denn so wie Performance und Theateraufführung keine dauerhaften Kunstwerke erschaffen, sondern Ereignisse in Raum und Zeit organisieren, so ist auch das Gehen von flüchtiger Materialität, beginnt und endet im Augenblick und hinterlässt allenfalls (Fuß-)Spuren in der Oberfläche des Bodens. Abdrücke, die auf Berührungen verweisen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Der Fokus des geplanten Dissertationsprojekts richtet sich, im Interesse einer weiter zu entwickelnden Ästhetik des Performativen, auf die Körper- und Wahrnehmungskonzepte, die den performativen Versuchen immanent sind. Auf welche Art werden in den performativen Aktionen und theatralen Versuchen Bewegungs-, Raum- und Zeitstrukturen organisiert? Eröffnen sich dem Gehenden vielleicht andere Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten, die dem Passagier im motorisierten Fahrzeug, aufgrund der hohen Geschwindigkeit, verschlossen bleiben, und kann die Auseinandersetzung der performativen Künste mit Gangarten und Schrittfolgen als eine Form des ästhetischen Widerstands gegen die Beschleunigung und Mechanisierung des Lebensalltags, die Paul Virilio als Signatur der Moderne bezeichnet, begriffen werden?
Mag.phil., Studium: Theaterwissenschaft mit den Nebenfächern Germanistik und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und der Universität Wien