Prósopon. Das gesehene und sehende Bild
Als Weiterführung meiner Studien zur Maske möchte ich den Zusammenhang zwischen "Maske" und "Blick" untersuchen. Den Ansatz dazu liefert die altgriechische Bezeichnung für die Theatermaske: Prósopon heißt buchstäblich "das den Augen (dem Blick) Entgegengestellte". Entscheidend ist die Doppeldeutigkeit des Begriffs, der nicht zwischen natürlichem und künstlichem Gesicht unterscheidet: Maske und Gesicht, die wir geradezu als Antonyme verstehen, sind für die Griechen ein und dasselbe Wort. Prósopon fokussiert auf die Oberfläche, das Gesichtete, und wirft im Gegensatz zur Maske nicht automatisch die Frage nach einem Dahinter auf. Während das Begriffspaar Maske/Gesicht eine Reihe fundamentaler Dualismen impliziert (Erscheinung/Wesen, Außen/Innen, Künstlichkeit/Natürlichkeit etc.), lässt sich prósopon als paradoxe Einheit dieser Unterscheidungen verstehen. Ein aufgesetztes prósopon wird nicht als etwas Unnatürliches und Verlogenes betrachtet, das das Gesicht quasi verdoppelt; vielmehr ergänzen sich Gesicht und Maske zu einer neuen prosopischen Einheit. Maßgeblich für den Beobachter ist die Übereinstimmung des prósopon mit den Handlungen und der Rede der Figur. Indes fehlen dem prósopon "als Maske" die Augen; sie gehören zum prósopon "als Gesicht". In diesem Sinne lässt sich das aufgesetzte prósopon als "sehendes Bild" beschreiben oder – in Anbetracht der Kopfbewegungen des Akteurs – als "lebendige Plastik". Die Schauspielermaske ist damit zugleich gesehenes und sehendes Bild. Bedenken wir, dass in der attischen Tragödie die Grundbedingungen des Menschseins von Maskenträgern verhandelt werden, stellt sich die Frage, ob dieses Menschenbild als ambivalentes Zusammenspiel von Gesicht und Maske nicht im heutigen Medienzeitalter wieder brisant geworden ist und aktualisiert werden könnte.
Privatdozent an der Fakultät für das Studium fundamentale der Privaten Universität Witten, Herdecke, Lehrbeauftragter der Universität Zürich
U. a.: Meer der Tusche. Erzählung mit zehn Bildern, Zürich 2003; Die Paradoxie der Maske: Geschichte einer Form, München 2004; Gesicht und Maske: Lavaters Charaktermessung, in: Gerd Theile (Hg.), Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, München 2005, S. 35–64; Weg des Vergessens. Roman, Zürich 2006; Wittgensteins Vorworte, in: Martin Stingelin (Hg.), Schreibprozesse, München 2006.