Erspielte Evidenz. Die Wirklichkeit der Gaming Culture oder Volkskunst als strategisches Projekt
"This is living", so der kühne Slogan eines Softwareunternehmens für sein jüngst beworbenes Hybridobjekt aus Mensch und Spielkonsole: Gaming ist das wahre Leben, der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er zockt. Und in der Tat: Die Gaming Culture, in der Mitte der Gesellschaft angekommen, hat vom Kinderzimmer bis zum Kapitalmarkt eine Denkstil bildende Dynamik losgetreten, die Prozesse der gesellschaftlichen und privaten Selbstkonstitution als mythophiles Role-Play modelliert. Im Gegenzug wird die konkrete Welt des Rollenspiels erstaunlich arbeitsförmig, Spiel und Nicht-Spiel gleichen sich einander an. Die neuen Multiplaying-Spielformate überschreiben dabei die ererbte Differenz von fact und fiction durch ein partizipatorisches Verfahren, das die Gaming Zone zum Simulakrum und Labor realer Narrative macht. Begleitet wird die Simultanität von Camouflage und Multiplikation des Selbst, die Selbst-Ermächtigung, von einer eigenständigen juridischen und ökonomischen Logistik, die - als Herrschafts- und Verwaltungskunst der ""tückischen Subjekte"" - im Erfahrungsraum des neuen homo ludens eine neue cura sui profiliert. So werden Aktualität und Virtualität im Horizont der Gaming Culture zu Funktionen eines lebenspraktischen Kontinuums, das spielend einlöst, was die Theoriedebatte als Verfahren einer neuen Ethik fordert: Technologien des Selbst. Die Gaming Culture aber avanciert auf diese Weise von der Praxis einer randständigen Popularkultur, der Esoterik des Realen, zur realen Volkskunst: zur Kultur der Evidenz schlechthin.
Robert Matthias Erdbeer studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und am Trinity College in Dublin. Er promovierte im Rahmen des Tübinger Graduiertenkollegs ""Pragmatisierung/Entpragmatisierung. Literatur als Spannungsfeld autonomer und heteronomer Bestimmungen"" zum Thema esoterische Kosmografie. Forschungsaufenthalten an der University of California, Berkeley, und am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien folgte seine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am WIN-Kolleg ""Konstruktion von Vergangenheit als Raum des Politischen"" der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und als Dozent für Wissenschaftsgeschichte und -theorie an der Hochschule Bremen. Robert Matthias Erdbeer ist Mitglied der kulturwissenschaftlichen BTWH-Kooperation ""Emergence of Modernity"" (Berkeley, Tübingen, Wien, Harvard) und arbeitet seit 2005 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
(u. a.): Die Signatur des Kosmos, Tübingen 2009; gem. mit Christina Wessely, Kosmische Resonanzen. Theorie und Körper in der Esoterischen Moderne, in: Karsten Lichau et al. (Hg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München 2009, S. 143-176; Epistemisches Prekariat. Die qualitas occulta Reichenbachs und Fechners Traum vom Od, in: Dirk Rupnow et al. (Hg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/Main 2008, S. 127-162; Deskriptionspoetik. Humboldts ""Kosmos"", die verfahrensanalytische Methode und der wissenschaftsgeschichtliche Diskurs, in: Bernhard J. Dotzler, Sigrid Weigel (Hg.), ""fülle der combination"". Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 239-266; Spaßige Rassen. Ethno-Flanerie und Gender-Transgression in Robert Müllers ""Manhattan"", in: Kristin Kopp, Klaus Müller-Richter (Hg.), Die ""Großstadt"" und das ""Primitive"". Text - Politik - Repräsentation, Stuttgart 2004, S. 221-257."