Figuren des Sakralen in der Dialektik der Säkularisierung
Mit der etablierten Vorstellung von Säkularisierung als einem Prozeß der Aufklärung gehen zwei Mythen einher: der Mythos einer vorausgegangenen geschlossenen religiösen Welt und der Mythos einer gänzlich säkularisierten Kultur. Demgegenüber gehe ich davon aus, daß Säkularisierung als dialektischer Vorgang zu untersuchen ist, in dem beispielsweise die Transformation religiöser Topoi in der Philosophie nicht nur mit der Verwerfung theologischer Dogmen, sondern auch mit der Konstitution sakraler Figuren verbunden ist.Stellt die Säkularisierung sich also niemals als Prozeß einer vollständigen oder restlosen Transformation, Sublimierung oder gar Aufhebung von Theologie in Vernunft, des Heiligen ins Profane dar, so wird das Hauptaugenmerk (1) auf jene Spuren und Zeugnisse gerichtet, in denen Bezugnahmen auf biblische, religiöse und göttliche Momente im Denken zum Ausdruck kommen, (2) andererseits auf Momente der verwandelten Wiederkehr religiöser Bedeutungen und auf Refigurationen des Sakralen in einer "Welt ohne Gott" oder, um es sprachtheoretisch zu wenden, in einer semiotischen Zeichenwelt der Codes, Medien und wissenschaftlichen Diskurse.
Direktorin des Zentrums für Literaturforschung und Professorin am Institut für Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, TU Berlin
U. a. Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise (1997); Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses (1999); gem. mit G. Neumann (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie (2000); gem. mit J. Tanner (Hg.): Gedächtnis, Geld und Gesetz. Zum Umgang mit der Vergangenheit (2001)