Lebendige Kristalle. Kulturen der Modellierung an der Biologischen Versuchsanstalt in Wien
Ziel des Projekts ist es, der anhaltenden Attraktivität von Kristallanalogien in der Biologie auf den Grund zu gehen. Warum dienten vom 18. bis ins 20. Jahrhundert immer wieder Kristalle als Modelle für bestimmte Lebensphänomene? Während seines Aufenthalts am IFK wird sich Thomas Brandstetter dabei auf den Kontext der Wiener Biologischen Versuchsanstalt (1902-1938) konzentrieren. Dort hat vor allem Hans Przibram Kristalle zur Modellierung von Lebensphänomenen herangezogen und umfangreiche Versuchsreihen über die Regenerationsfähigkeit von Kristallen angestellt. In seinem Projekt wird er untersuchen, welche Ziele Przibram bei seinen Forschungen verfolgte und welche Funktion die Kristalle als Modell dabei einnahmen.Damit wird Brandstetter nicht nur einen bislang wenig beachteten Aspekt der Geschichte der Lebenswissenschaften erforschen, sondern auch Licht auf die historischen und epistemologischen Herkunftslinien aktueller wissenschaftlicher Fragestellungen werfen: Denn die Kristallanalogien dieser Zeit haben den Boden für den einzigartigen Siegeszug der Röntgenkristallographie in der Biologie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereitet und damit unser heutiges Dispositiv der Molekularbiologie ermöglicht.
Thomas Brandstetter ist Postdoc bei eikones NFS Bildkritik in Basel. Zuvor war er Assistent am Institut für Philosophie der Universität Wien. Er studierte Philosophie in Wien und promovierte in Kultur- und Medienwissenschaften an der Bauhaus-Universität Weimar.
gem. mit Claus Pias und Sebastian Vehlken (Hg.), Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Zürich/Berlin 2010; Vom Nachleben in der Wissenschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 1, 2009; Leben im Modus des Als-Ob. Spielräume eines alternativen Mechanismus um 1900, in: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker (Hg.), Vita Aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin 2009; Kräfte messen. Die Maschine von Marly und die Kultur der Technik, Berlin 2008.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein galten Kristallisationsphänomene als Evidenz für die Fähigkeit von Materie zur Selbstorganisation. Sie boten damit Alternativen zu zeitgenössischen biologischen Erklärungsprinzipien. Thomas Brandstetter untersucht, welches Bild vom Leben und vom Lebendigen sowie welche Vorstellung von den Methoden und Reichweiten der Biologie bei der Verwendung von Modellen, wie dem Kristall, impliziert waren. Nicht zuletzt soll damit auch die Rolle der Modellbildung und der Imagination in der biologischen Forschung ausgelotet werden.