Literatur und die Technisierung des Blicks
Ausgangspunkt des von Karl Wagner (Universität Wien) und Ulrich Stadler (Universität Zürich) organisierten Workshops war der Versuch, die inzwischen als Dogma konstatierte Komplizenschaft von Literatur und (männlichem) Blickzwang zu nuancieren. Um die Beschäftigung mit dem Phänomen des Voyeurismus aus dem Schlagschatten eines generellen Perversionsverdachts herauszuheben, wurde zunächst einmal versucht, die unterschiedlichen Verwendungsarten des Begriffs zu analysieren. Das Anrüchige, das sich mit der Vorstellung des Voyeuristischen noch immer verbindet, steht nämlich in starkem Kontrast zu der Selbstverständlichkeit, mit der wir uns alle von Tag zu Tag mehr in die Rolle von Voyeuren drängen lassen. Ob wir lesen, ob wir eine Theateraufführung besuchen, ob wir uns einen Film im Kino ansehen, ob wir fernsehen oder ob wir ganz allgemein mit gesellschaftlichen Prozessen konfrontiert werden, in die wir nicht eingreifen können - in all diesen Fällen verhalten wir uns mehr oder weniger, aber doch mit deutlich steigender Tendenz als Voyeure. Zwischen einem Schauen, das institutionell und definitorisch aufs Schauen begrenzt ist, und einem, das geschlechtliche Erregung bewirken soll, mag es Gemeinsamkeiten geben, vor allem aber gibt es Unterschiede. Und Unterschiede gibt es auch zwischen einem sexuell stimulierenden Schauen, das, wie Sigmund Freud meinte, das "normale Sexualziel" vorbereite, und einem solchen, das es "verdränge" und als dessen Ersatz fungieren solle.
Ausgehend von solchen Differenzen unterschied Ulrich Stadler einen engeren von einem weiteren Begriff des Voyeurismus. Er zeigte in seinem Einführungsvortrag, daß der Fernsinn des Sehens stets eine ambivalente Einschätzung erfuhr und daß von der gesellschaftlichen und moralischen Ächtung der Concupiscentia oculorum nicht automatisch auf die Existenz eines Voyeurismus im engeren Sinne der Freudschen Begriffsdefinition geschlossen werden dürfe. Die sogenannten biblischen Urszenen des Voyeurismus, die Geschichte von der keuschen Susanna und von David und Bathseba, erwiesen sich vielmehr bei genauerer Betrachtung nicht als Voyeurszenen in jenem strengen Sinne, sondern bloß als Exempelgeschichten des unkeuschen Blicks. Gleiches gelte für nahezu alle bildlichen Darstellungen dieser Themen von Hans Memling bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Erst nach 1800 seien voyeuristische Szenen in der bildenden Kunst und in der Literatur in größerer Zahl nachweisbar.
Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich; studierte an den Universitäten Bonn, Berlin; Assistent an der Universität Basel (1969-74). 1977 Habilitation; Gastprofessuren an den Universitäten Tübingen, Wien, Genève und Lausanne.
Veröffentlichte u.a.: Die theuren Dinge. Studien zu Bunyan, Jung-Stilling und Novalis (Bern 1980); gem. m. Wolfram Gradeck (Hg.): Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift f. Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag (Berlin, New York 1994); (Hg .): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens (Stuttgart 1996); gem. m. Paul Hugger (Hg .): Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart (Zürich 1995); gem. m. Hans-Georg von Arburg und Michael Gamper: "Wunderliche Figuren". Über die Lesbarkeit von Chiffren (Paderborn 1999). Zahlreiche Aufsätze darunter: "Novalis. Ein Autor, der mehr sein möchte als bloß Poet" in: Grimm, G.E. (Hg.): Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteiler von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Frankfurt!Main 1992), S. 135-150; "Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen" in: E. T.A. Hoffmann Jahrbuch 1 (1992/93), S. 91-105; "Esoterisch und exoterisch. Popularisierungsversuche bei Jean Paul, Novalis und Heinrich Heine" in: Markus Winkler (Hg .): Heinrich Heine (Tübingen 1997), S. 57-71.