Ritual, Wissen und Geschlecht. Jane Harrisons Werk im Kontext pluraler Aneignungen der Antike um 1900
Die englische Religionswissenschafterin Jane E. Harrison (1850–1928) wandte sich als eine der Ersten von der "Schrift/Text"-Hegemonie ab und verknüpfte in ihrer Rekonstruktion der griechischen Religion und Kunst die Zeugnisse und Artefakte mit den schriftlosen Wissenstechniken und -formen der oralen Traditionen indigener Gesellschaften: Erzählungen, Körpergesten, Musik und ekstatischer Tanz avancierten in ihren Analysen zu gleichberechtigten Medien des religiösen Wissens wie des sozialen Lebens. Dabei partizipierte Harrison am allgemeinen Medienumbruch in ihrer Zeit wie an der anthropologischen Wende in den Religionswissenschaften. Zu beachten ist auch ihre Vernetzung mit den modernen KünstlerInnen- und Frauenbewegungen. Relevant für das Projekt ist die Spannung von kolonialen Grenzdiskursen und archäologischen Entdeckungen, die im Begriffsfeld von Geschlecht und Ritual mit kulturellen Umbrüchen in der Moderne koinzidiert. Biografie und Werk werden im Kontext kultureller Netzwerke, besonders im Zusammenhang moderner Aneignungen einer in "weiblichen" Pathosformeln und Narrativen vorgestellten Antike – Suffrage, Neuer Tanz, Goddess-Bewegung, Literatur –, neu zu lesen sein. Die Harrison begleitenden Debatten um Wissen und Geschlecht, ihre Wirkung auf KünstlerInnen- und Emanzipationsbewegungen und ihre – archäologische Bildwerke gleichberechtigt neben die elitäre Textphilologie stellende – Erforschung griechischer Religion werden als notwendig miteinander verbunden kontextualisiert. Interessant sind dabei vor allem die Verknüpfung moderner Umbrüche und kreativer Auswanderungsbewegungen aus der nachviktorianischen Geschlechterordnung und die archäologischen Entdeckungen eines feminisierten Griechenlands als performative Kultur.
Gastprofessorin am Gender Kolleg der Universität Wien und Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin
U. a.: Hinab in den Maelstrom. Das Mysterium der Katastrophe im Werk Edgar Allan Poes, Stuttgart/Weimar 1993; Puritanismus und Pioniergeist. Zur Faszination der Wildnis im frühen Neu-England, Berlin/New York 2000; Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004; gem. mit Christina von Braun, Gabriele Jähnert, Gabriele Dietze u. a. (Hg.), 'Holy War' and Gender. 'Gotteskrieg' und Geschlecht. Violence in Religious Discourses. Gewaltdiskurse in modernen Religionen, Berlin 2006; gem. mit Rainer Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007.