Visualität und Erkenntnis. Perspektiven des fremden Blicks
In der Ethnologie ist das Paradigma der Visualität um ein spezifisches Moment erweitert: Hier soll der Forscher die Dinge nicht nur mit eigenen Augen gesehen haben, sondern zugleich mit fremdem Blick untersuchen. Demnach wird dem Auge des Ethnografen und dem Blick des Fremden eine besondere erkenntniskonstitutive Qualität zugesprochen: Der ethnografische Blick erkennt Zusammenhänge, die den Einheimischen für gewöhnlich verborgen bleiben. Wenn jedoch dieser Zugewinn an Erkenntnis über den Anderen nicht Herrschaftswissen sein will, stellt sich die Frage nach dem Wissenstransfer, nach der Vermittlung der gewonnenen Erkenntnisse. - Ein solcher Wissenstransfer stößt auf erhebliche Probleme, wenn die betreffende Gesellschaft weder dem Paradigma der Visualität noch dem Ideal der Bildungs- oder Forschungsreise verpflichtet ist. Das ist in zahlreichen Ländern der "Dritten Welt" der Fall, wo vorwissenschaftliche und wissenschaftliche, traditionelle und moderne Konzepte aufeinandertreffen. Hier haben sich Wissenskulturen herausgebildet, die zwischen den Paradigmen von Visualität und Oralität changieren. In einer genauen Kenntnis dieser hybriden oder translokalen Formen wäre eine Bedingung dafür zu sehen, anschlussfähige Diskurse führen und Wissen interkulturell vermitteln zu können.
Volker Gottowik ist Privatdozent am Institut für Historische Ethnologie, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/Main; Gastdozenturen in Denpasar (Indonesien), New Jersey (USA) und Accra (Ghana).
u. a.: Zwischen dichter und dünner Beschreibung: Clifford Geertz' Beitrag zur Writing Culture-Debatte, in: Iris Därmann, Christoph Jamme (Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, Tübingen 2007, S. 119-142; Vergegenwärtigte Ahnen: Zur symbolischen Ordnung der Masken auf Bali, in: Patrick Eiden, Nacim Ghanbari, Tobias Weber, Martin Zillinger (Hg.), Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod, Frankfurt/Main, New York 2006, S. 291-312; Der Ethnologe als Fremder. Zur Genealogie einer rhetorischen Figur, in: Zeitschrift für Ethnologie 130, 1, 2005, S. 23-44; Die Erfindung des Barong. Mythos, Ritual und Alterität auf Bali, Berlin 2005; Clifford Geertz in der Kritik. Ein Versuch, seinen Hahnenkampf-Essay "aus der Perspektive der Einheimischen" zu verstehen, in: Anthropos Vol. 99/1, 2004, S. 207-214.