15 Juni 2015
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IFK

DAS ENDE DER FIKTIONEN? DIE KRISE DES LITERARISCHEN REALISMUS IN DEN 1960ER-JAHREN

Mit seinem strukturalistisch-semiologischen Schreibprogramm der 1960er-Jahre machte es sich Peter Handke zur Aufgabe mittels ästhetischer Verfahren ein Bewusstsein für die falsche Natur in der Gesellschaft zu schaffen.

 

Nach seinem vom Nouveau Roman beeinflussten Debütroman Die Hornissen (1966) verlegte sich Handke für einige Jahre ganz auf die strukturalistisch-semiologisch fundierte Entlarvung ‚falscher Natürlichkeiten‘, die von einer vehementen Kritik an konventionellen realistischen Erzählverfahren begleitet wurde. Anstatt neue Fiktionen zu schaffen, die auf kulturelle Codes und damit auf bestehende, vermeintlich ‚natürliche‘ Bedeutungen zurückgreifen, ging es Handke darum die Regeln offenzulegen, nach denen vorhandene Modelle funktionieren. Mit dem linguistic turn kam die Erkenntnis, dass im Zuge von Bezeichnungsvorgängen Realität nicht bloß ab- oder nachgebildet wird, sondern dass das Bezeichnen seinerseits realitätskonstituierend wirkt. Kulturelle Prozesse richten sich also immer auf die Produktion von Bedeutung, wie Roland Barthes in seiner Theorie vom Mythos zeigte, die einen wichtigen Bezugspunkt für Handkes Frühwerk darstellt.

Wenn alle Natur künstlich ist, stellt sich zwangsläufig jene Frage, die ein Kernthema der Moderne berührt: Was bleibt dann noch? Sie wurde bis heute nicht beantwortet, hat jedoch einen Diskurs entfesselt, der für Barthes und für zahlreiche andere TheoretikerInnen und KünstlerInnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zentral blieb. Auf die Suche nach jenem Rest, der nicht durch kulturelle Bedeutungen überformt ist, nach jenen Bereichen also, die vor aller ‚Zurichtung‘ durch das Kulturelle liegen, begibt sich auch Handke. Das zeigt eine Analyse seiner literarischen Praxis und seiner filmprogrammatischen Texte der 1960er-Jahre. Ausgerechnet im Western-Film, diesem denkbar künstlichsten und höchst formalisierten Gebilde, wurde er fündig.

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