Wir brauchen Tragik und Tragödie. Sie sind notwendige Formen der Darstellungskultur, gerade in Zeiten, in denen ungebrochen an rationale Konfliktlösung geglaubt wird. Hans-Thies Lehmann zeichnet das Bild eines neuen Theaters einer postdramatischen Theatralität, indem er es den dramatischen und prädramatischen Grundformen des Theaters in Europa gegenüberstellt. Tragödie und Tragik sind Begriffe, Namen, die zu den spezifischen Grundmustern europäischen Denkens gehören. Andere Kulturen und andere Theatertraditionen haben, obwohl sie durchaus ernstes Drama und dem Tragischen vergleichbare Themen kennen, das spezifische Muster von Tragik und Tragödie nie entwickelt. Gehören Tragik und Tragödie aber noch zur Gegenwart, oder beschränkt sich ihre Bedeutung darauf, als museale Prunkstücke aus der Vergangenheit der Kultur Europas zu dienen? Wenn Tragik als Konzept eine Erfindung der neueren Philosophie seit 1800 ist und das Gattungsschema der Tragödie kollektive Erfahrungen früherer Epochen artikulierte, so steht zur Frage, ob diese Theaterstücke und dieses Konzept noch Erfahrungswirklichkeiten der heutigen Zeit zu artikulieren vermögen. Entgegen der verbreiteten These vom „Tod der Tragödie“ versucht Hans-Thies Lehmann zu zeigen, dass Tragik und Tragödie nicht nur mögliche, sondern in einer Zeit des beinahe ungebrochenen Glaubens an eine rationale Bewältigung aller Konflikte des (Zusammen-)Lebens umso notwendigere Formen der Darstellungskultur sind. Das neue Theater einer postdramatischen Theatralität wird erläutert durch die Konfrontation mit den prädramatischen und dramatischen Grundformen des Theaters in Europa.
Ort: IFK
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