Es hat sich eingebürgert, von Paris, Wien, Berlin als den Zentren der europäischen Moderne zu sprechen. Die Stadt, in der man, wie Friedrich Nietzsche meinte, erfahren könne, was mit Europa geschieht, taucht in diesem Koordinatensystem nicht auf. Dabei markiert der Chronotop Petrograd/1917, dessen Jubiläum in einem Jahr begangen wird, eine Bruchstelle wie keine andere europäische Metropole.
Es ist seltsam, dass Sankt Petersburg im Reigen der „europäischen Kulturhauptstädte“ bisher nicht auftaucht. Nicht einmal für das Jahr 2017, in dem Europa, wenn es nicht von Schockwellen gegenwärtiger Ereignisse aus dem Betrieb von Jahrestags- und Jubiläumsfeiern herausgerissen wird, sich vor Augen führen kann, was das war: Petrograd 1917 – zehn Tage, die die Welt erschütterten. Die Hauptstadt des Russländischen Reiches, der Schauplatz der Russischen Revolution, der Ort eines tragischen Untergangs kommt in der Regel im Moderne-Diskurs nicht vor. Dessen Koordinaten sind bestimmt von Paris, Wien, Berlin und einigen Subzentren von großer Strahlkraft. Wenn zutrifft, was Friedrich Nietzsche einmal bemerkt hat – wer wissen wolle, was in Europa vor sich gehe, müsse hören, was in Sankt Petersburg geschieht –, dann sollte man es im Abstand von 100 Jahren, nach einem „Jahrhundert der Extreme“, in der alten Hauptstadt an der Newa tun. Dies umso mehr, als nach dem Ende des Sowjetimperiums auch die Neuverhandlung der Erbschaft des Russischen Imperiums auf die Tagesordnung gesetzt ist.
Nach dem Studium der Philosophie, Soziologie und Osteuropäischen Geschichte an der Freien Universität Berlin absolvierte Karl Schlögel Studien und Forschungsaufenthalte in Moskau und Leningrad. Er war zuerst Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz, dann an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Nach seiner Emeritierung arbeitete er an einer Archäologie des Kommunismus und einer Geschichte des Wolgaraumes.
Publikationen (u. a.): Moskau lesen, München 2011; Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008;Petersburg. Laboratorium der Moderne 1909–1921, München 2007; Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
In Kooperation mit dem Wien Museum
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Ort: WIEN MUSEUM
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