Wien um 1900 war auch eine ostjüdische Stadt, in der sich die zweite Generation der aus Böhmen oder Galizien Gekommenen schnell akkulturierte – so auch Freud. Er verstand sich als „gottloser Jude“, doch ist Glauben im Judentum ohnehin nicht so wichtig wie die Einhaltung religionsgesetzlicher Regelungen, der Halacha.
Freuds Judentum ist gebrochen, hybrid, und er ging auch noch durch eine antike (Athen) und eine christliche Religionskultur (Rom). Judentum, Antike, Katholizismus liefern für sein Denken wesentliche Bestandteile. Das Ostjudentum bringt die Erfahrungen des Heiligen als des höchst ambivalent Außeralltäglichen (so geweiht wie verrucht) in symbolischen Formen von Besessenheit und Heil(ung) zur Darstellung, in Phänomenen wie dem Dibbuk, dem Untoten. Er fährt vor allem in Frauen ein und besitzt sie. Dies korrespondierte mit Freuds Beobachtungen der Hysterie, wenn es diese nicht sogar verstärkte. Die Postulierung des Ödipuskomplexes stellt nicht nur die Interpretation eines antiken Mythos dar, sondern ist auch Ergebnis von Freuds Reisen nach Italien und Bosnien, auf der Suche nach der verlorenen Zeit der Ahnen. Seine böhmische Kinderfrau ist Potiphars Weib in Europa, aber ganz ungewollt auch Repräsentantin rabbinischer Trieblehre und kabbalistischer Eros-Spekulationen. Wie dies sowohl für Freuds Psychoanalyse als auch für eine Theorie der Dialektik der Säkularisierung und des Nachlebens der Religionskulturen fruchtbar gemacht werden kann, untersucht der Vortrag.
Martin Treml ist Religionswissenschafter und Judaist und arbeitet seit 2000 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin in leitender Funktion, zurzeit am Forschungsprojekt „Aby Warburg und die Religionskulturen“. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorie um 1900, westliche Religionskulturen, Kultur- und Literaturgeschichte des deutschen Judentums, Antike. Er ist derzeit IFK_Senior Fellow.
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