Neuere soziale Protestbewegungen pflegen einen unkonventionellen Habitus: Bei allem vehementen Auftreten stellen sie sich auch gleichzeitig infrage, um ihre Bewegungsgrenzen offenzuhalten. Oliver Marchart wird diesen Veränderungen im Selbstverständnis von Protestbewegungen nachgehen und deren demokratiepolitische Implikationen ausloten.
Viele der jüngsten sozialen Bewegungen können als postidentitär charakterisiert werden, denn sie unterwerfen ihre eigene Identität, ihre Ziele, ihre Strategien und Subjektivierungsformen einem Prozess der Selbstinfragestellung. Die Zeiten radikaler identity politics, also des Einigelns in der eigenen partikularen Identität, scheinen vielerorts vergangen. Das wohl historisch erste, mit Sicherheit aber prominenteste Beispiel für eine postidentitäre soziale Bewegung sind die mexikanischen Zapatisten, deren Slogan nicht zufällig lautet: Preguntando caminamos – fragend schreiten wir voran. Ihr politisches Ziel besteht nicht in der Anrufung eines homogenen Protestkollektivs. Eher scheinen sie auf der Suche nach der Gemeinschaft derer zu sein, die nichts anderes gemein haben als ihre je unterschiedliche Exklusionserfahrung. Ähnlich hat die Queer-Bewegung die Infragestellung festgezurrter Identitäten geradezu zum politischen Programm erhoben. Auch die Debatten in der EuroMayDay-Bewegung der Prekarisierten sind von der ständigen Thematisierung und Infragestellung der selbstproduzierten Ein- und Ausschlüsse gekennzeichnet. Und schließlich haben die jüngsten Demokratisierungsbewegungen wie Occupy oder Democracia real Ya bereits von der globalisierungskritischen Bewegung erprobte Prozeduren weiterentwickelt, um die eigene Identität fließend und die Bewegungsgrenzen offenzuhalten.
Ort: IFK
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