Musik, Religion und Wissenschaft in der Spätantike und der Karolingerzeit. Eine Geschichte des Gesangs vor dem Zeitalter der Musik
Im Gegensatz zu der trügerischen Vorstellung von Kontinuität, wie die Musikgeschichte sie im Hinblick auf ihren Forschungsgegenstand gewohnheitsmäßig hegt, handelte es sich bei der in der Karolingerzeit einsetzenden Formung europäischer Musik nicht um eine bloße Fortsetzung vorausgegangener „musikalischer“ Traditionen. Vielmehr bedingte das Aufeinandertreffen einer religiösen Tradition und einer Tradition in der Domäne des Wissens im neunten Jahrhundert nördlich der Alpen einen Traditionsbruch, der sich als Beginn europäischer Musik auffassen lässt. Die religiösen Transformationen der Spätantike – das Ende des Opferkults und der Aufstieg der Buchreligionen – hatten das neue, den drei spätantiken Buchreligionen gemeinsame Ritual der vokalen Performanz sakraler Texte hervorgebracht: das Ritual des Gesangs, Gesang als Ritual. Die an der vokalen Performanz der Texte mitwirkenden melodischen Prozeduren wurden in allen diesen Religionen oral überliefert. Infolge des transalpinen Transfers des Kultgesangs der römischen Kirche im Kontext karolingischer Kirchenpolitik und der Rezeption antiker Wissenschaften im Kontext karolingischer Bildungsreform gelangten eine religiöse und eine wissenschaftliche Tradition der Spätantike nördlich der Alpen miteinander in Kontakt. Dort hat man Konzepte antiker Grammatik und Harmonik angewendet auf die melodischen Prozeduren des römischen Gesangs. Deren Sichtbarmachung durch grafische Zeichensysteme und deren Abbildung auf Skalen antiker Tonsysteme stellten die melodischen Prozeduren still und entfremdeten sie den Zirkulationsbedingungen melodischer Oralität. Die Geschichte des Gesangs vor dem Zeitalter der Musik (im neuzeitlichen europäischen Sinne des Begriffs), an der Andreas Haug als Fellow des IFK arbeiten wird, zielt auf die These, dieser Traditionsbruch habe einen Übergang des Gesangs von einem Ritual der Stimme in eine Kategorie von Musik ausgelöst.
Andreas Haug ist Professor an der Universität Würzburg (Lehrstuhl für Musik des vorneuzeitlichen Europa) und hatte Professuren in Trondheim und Erlangen inne sowie Gastprofessuren in Wien, Basel und Eugene, Oregon. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die Geschichte der Musik und des Musikdenkens von der Spätantike bis zum Hochmittelalter. Zusammen mit dem Informatiker Frank Puppe leitet er am Würzburger Zentrum für Philologie und Digitalität (ZPD) das digitale Langzeiteditionsvorhaben der Mainzer Akademie der Wissenschaften Corpus monodicum. Die einstimmige Musik des lateinischen Mittelalters.
„Tropes“, in: Thomas F. Kelly und Mark Everist (Hg.), The Cambridge History of Medieval Music, Band I, Cambridge 2018, S. 263–299; „Der Codex und die Stimme in der Karolingerzeit“, in: Felix Heinzer und Hans-Peter Schmit (Hg.), Codex und Geltung, Wiesbaden 2015, S. 29–46 (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 25); „Ways of Singing Hexameter in Tenth- Century Europe“, in: Michael Scott Cuthbert, Sean Gallagher, Christoph Wolff (Hg.), City, Chant, and the Topography of Early Music, Cambridge, Massachusetts 2013, S. 207–228 (= Harvard Publications in Music 23).
Im neunten Jahrhundert kamen nördlich der Alpen neuartige Zeichensysteme auf, die es erstmals ermöglichten, die beim Singen von der Stimme ausgeführten Tonbewegungen sichtbar zu machen: eine mittelalterliche Erfindung, für die es keine antiken Vorbilder gab und ohne die es die neuzeitliche Notenschrift nicht gäbe.