Ambivalente Liaisons. Sexualität zwischen Pathologie und Kriminalität in der Wiener Moderne
Das Wien des frühen 20. Jahrhunderts und dessen Abbild in zahlreichen literarischen und kulturellen Texten bildet die Grundlage des Projekts. Das für diese Zeitperiode vorherrschende Konzept von sexueller Abweichung, das sich im medizinischen Kontext auf Pathologisierung und Vererbung stützte, kam in brutalen Kontakt mit den strafrechtlichen Bedürfnissen des Staates. Diese Verwicklung wurde in multiplen Szenarien, thematischen Konstellationen und Genres inszeniert. Ins Zentrum rückt dabei das Moment der Übersetzung, also die textliche Instanz, in der es zur Verhandlung zwischen diesen konkurrierenden Kräften kommt. Dabei sollen periphere Diskurse über Sexualität beleuchtet werden, insbesondere die sich eröffnenden diskursiven Bereiche der Queerness und der Sexarbeit.
Dieses Projekt interveniert am Ort der Verstrickung, an dem zahlreiche Autor*innen der Wiener Moderne die zunehmend aporetische Verknüpfung zwischen einem modernen, auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierenden Verständnis von Sexualität, und einem biederen politischen Paradigma aufzeigten. Indem die Psychopathia Sexualis sowie andere Texte der von Krafft-Ebing geleiteten Abteilung für Psychiatrie an der Universität Wien aus dem späten 19. Jahrhundert aufgegriffen werden, hebt dieses Projekt hervor, wie sich psychiatrische Texte und deren öffentliche Diskussion in sozialen Spannungen und Widersprüchen, welche von den Autor*innen der Wiener Moderne mit ungebremster Neugier aufgenommen wurden, widerspiegelten.
Aviv Hilbig-Bokaer ist Doktorand am Institut für Germanistik an der New York University mit einem Schwerpunkt auf Literatur und visuelle Medien des früheren 20. Jahrhunderts, insbesondere Diskurse der Psychoanalyse, Medical Humanities und Queer-Studies. Er schreibt über Klaus und Erika Mann, Franz Kafka und Thomas Bernhard. Er absolvierte seinen BA an der Clark University mit summa cum laude und Auszeichnung in Vergleichender Literatur und Internationaler Entwicklung.
Zwischen 2017 und 2019 war er als Sprachassistent an drei Wiener Gymnasien für Fulbright Austria und das Bundesministerium für Bildung tätig. 2020 arbeitete er an einem Archivprojekt über Klaus Mann und seine kritischen Theaterschriften als Research Fellow an der Staatsbibliothek Berlin. Im Sommer 2021 absolvierte Aviv ein DAAD-Stipendium für ein Projekt über Erika Mann und ihr antifaschistisches Kabarett in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
2022 war er ein Andrew W. Mellon Public Humanities Fellow bei der Modern Language Association in New York City am Department für Akademische Entwicklung und Programmdienst. Im Frühling 2023 organisierte Aviv die Interdisziplinäre Graduate Konferenz an der New York University mit dem Deutschen Haus New York. Vor seiner Ankunft in Wien war er ein Graduate Research Fellow an der NYU Paris, wo er gleichzeitig als Mainzer Fellow für die Geschichte der Sexualität tätig war.
»Public Humanities Certificate Programs: Critical Scholarship for the Twenty-First Century«, in: Modern Language Association Jobs Blog, 2022; »A Public Diagnosis: Destabilizing Scandal, Anxiety, and Medicine in Klaus Mann’s Barred Window«, in: South Atlantic Review, vol. 87, No. 2. 2022, S. 159–167; »Silent Hourglass; Nostalgia in Christian Marclay’s Cyanotypes«, in: Nancy Burns und Kristina Wilson (Hg.), Cyanotypes: Photography’s Blue Period, Worcester Art Museum, 2016.
The turn of the 20th century in Vienna saw the explosion of discursive and scientific appropriations of sexual difference based on new scientific paradigms of pathologization and hereditariness. Challenging both social and political exigencies, these new formations came into violent contact with the conservative carceral and criminal demands of the state vis-à-vis sexual deviance