Boris Groys
ifk Visiting Fellow


Zeitraum des Fellowships:
15. Oktober 1996 bis 31. Dezember 1996

Moderne Kunst im Kontext des modernen Museums / Die Zukunft der Archive



PROJEKTBESCHREIBUNG

Unser Sprechen über die Archive wird sicherlich in erster Linie von der berechtigten Sorge um den Fortbestand unserer kulturellen Archive geleitet. Erstens schätzen wir in unserer säkularisierten Kultur alle Dinge als vergänglich ein, so daß das Archiv für uns zum einzigen Ort geworden ist, an  dem wir der Vergangenheit begegnen können. Und zweitens erwerben wir erst im Archiv die Fähigkeit, das Neue, d.h. das Gegenwärtige oder das Zukünftige, von dem Vergangenen zu unterscheiden und damit erstmals zu identifizieren.

Wir brauchen die Archive, um den Vergleich herzustellen -zwischen dem, was frühewar, und dem, was heute ist oder viel leicht morgen sein wird. Daher hat die historische Dynamik der Moderne vor allem im Archiv ihren Ursprung und ihren Motor. Die sogenannten "kalten Kulturen", wie Levi-Strauss sie genannt hat, d.h. Kulturen ohne historische Dynamik, sind weitgehend auch Kulturen ohne Archivezumindest ohne schriftliche Archive. Diese ermöglichen erst einen solchen Vergleich. Wenn wir über die Zukunft der Archive sprechen, sollen wir also nicht vergessen, daß wir überhaupt nicht über die Zukunft sprechen könnten, hätten wir über diese Archive nicht verfügt.

VERANTWORTUNG FÜR DAS ARCHIV

Und weiter sollten wir uns fragen, aus welcher Perspektive wir über die Archive sprechen. Oder: Wer sind eigentlich "wir", wenn wir über die Archive sprechen? Zunächst einmal sprechen wir darüber aus der Perspektive derjenigen, die archivieren, oder einen Nutzen aus den Archiven ziehen, d.h. als Archivare, Sammler, Verwalter der Museen oder der Bibliotheken. Aus dieser Position heraus haben wir Interesse daran, daß die Archive fortbestehen, daß sie gut erhalten und erweitert werden. Aus der gleichen Position heraus kritisieren wir die existierenden Archive als unzureichend. Wir finden, daß sehr vieles in diesen Archiven unberücksichtigt, verdrängt, ausgeschlossen geblieben ist, das wir zusätzlich in den Archive repräsentiert sehen müssen und wollen. Gerade in den letzten Jahrzehnten entstand eine breite Diskussion darüber, was alles in den Archiven unserer europäischen kulturellen Tradition zu kurz gekommen ist. Durch diese Kritik wird die Sorge nicht nur um den Fortbestand der Archive, sondern auch um ihre Erweiterung zum Ausdruck gebracht. Diese Kritik an den existierenden Archiven geht also nach wie vor davon aus, daß die Archive für uns nützlich und wichtig sind, und daß wir diejenigen sind, die eine Verantwortung für diese Archive tragen und sich dieser Verantwortung auch stellen wollen.

DAS UNARCHIVIERBARE

Freilich werden wir zugleich auch mit den Diskursen über das radikal Andere, Unverfügbare und Unarchivierbare konfrontiert, die in den letzten Jahrzehnten ebenfalls modisch geworden sind- beginnend mit Barthes und Foucault und kulminierend bei Derrida in seinem Diskurs der Dekonstruktion. Wir sprechen über dieses ganz Andere, das sich unserem institualisierten Gedächtnis fundamental entzieht, zunächst einmal im Ton eines gewissen Bedauerns und einer Trauer. Denn dadurch wird unsere Fähigkeit, die von uns übernommene Verantwortung zu tragen, offensichtlich in Frage gestellt.

Gleichzeitig können wir aber beobachten, daß die Einsicht, daß den Archiven grundsätzlich etwas entgeht, bei uns nicht nur das Bedauern, sondern auch eine Art Begeisterung und Freude auslöst. Man spricht seit einer gewissen Zeit über das Ende der Geschichte, des Subjekts, der Kunstgeschichte, der Kunst überhaupt, der Literatur, des Museums usw. mit einem zunehmend hörbaren Unterton der Entzückung. Man freut sich darüber, daß die Vergangenheit verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen, ohne archiviert zu werden. Man freut sich über den sich abzeichnenden Untergang der Archive. Woher kommt diese Freude? Sie ist nicht neu: Es gibt in der Moderne eine lange Tradition, sich darüber zu freuen, daß die Archive untergehen, oder daß man der Macht der Archive entgeht, daß man aus den Archiven ausbricht. nDarüber ist schon bei Goethe nachzulesen: Faust ist deprimiert, weil er in einem Archiv, in einer Bibliothek sitzen muß und will aus der Bibliothek heraus, ins Leben, zu den Sachen selbst. Dafür schließt er sogar einen Pakt mit dem Teufel und ist bereit, teuer zu bezahlen. Wofür eigentlich? Für das Ende des Archivs, weil das Archiv von Anfang an endlich ist. Faust will die Endlichkeit der Bibliothek abschaffen, um die ewige Präsenz, die ewige Gegenwart des Augenblicks zu gewinnen. Allerdings hofft die heutige Philosophie nicht mehr auf Präsenz und Evidenz. Das radikal Andere entzieht sich sowohl dem Archiv, wie auch dem "Leben". Die Unendlichkeit des ganz Anderen muß unangeeignet, unbewohnt bleiben. Warum provoziert der Verweis auf ein sich entziehendes Andere des Archivs trotzdem das Gefühl der Begeisterung?

MISSTRAUEN GEGENÜBER DEM ARCHIV

Meine Vermutung besteht darin, daß diese Ambivalenz in unserem Verhältnis zum Archiv einen relativ einfachen Grund hat: Wir sind nicht nur diejenigen, die archivieren, sondern auch diejenigen, die archiviert werden. Unsere Bilder, unsere Schicksale, unsere Taten werden archiviert- aber wir vertrauen den Archiven nicht, daß sie uns entsprechend unseren Wünschen archivieren. Wir befürchten, daß die Kontrolle über unsere Repräsentation im Archiv uns auf eine für uns verhängnisvolle Weise entgleitet- und ziehen es vor, uns dem Archiv gänzlich zu entziehen. Besser gar kein historisches Gedächtnis, als ein solches, in dem wir schlecht vorkommen.

Alles, was über uns archiviert wird, kann gegen uns verwendet werden. Das ist eine bekannte Einsicht. Es handelt sich im Grunde um das Fortwirken- unter den Bedingungen der säkularen Kultur- der alten Angst vor dem unendlichen Archiv, vor dem unendlichen Gedächtnis Gottes, vor dem Jüngsten Gericht. Daher die Freude über die Endlichkeit unserer kulturellen Archive, über das Ende unserer Archive. Das unendliche Gedächtnis Gottes bedroht uns und verspricht uns die Verurteilung und Strafe beim Jüngsten Gericht, d.h. ein unendliches Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Bei Nietzsche kann man nachlesen, daß der Grund für unseren Atheismus im Unwillen liegt, einen unendlichen Betrachter unserer Selbst zuzulassen und das Urteil dieses Betrachters über uns zu ertragen. Nun, die Gespaltenheit in unserem Verhältnis zum Archiv führt, wie gesagt, dazu, daß wir uns darum kümmern, daß die Archive fortbestehen, aber zugleich ihre Zerstörung wünschen. Ich möchte jetzt die entsprechenden ambivalenten Strategien unseres Umgangs mit den Archiven genauer beschreiben.

AMBIVALENTE STRATEGIEN

Eine solche Strategie ist gut bekannt: Sich selbst zu stylen, sich selbst zu gestalten, sich selbst zu reflektieren, das eigene Bild zu schaffen und es den anderen aufzuzwingen. Diese Strategie hat aber offensichtlich ihre Grenzen, denn unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion ist begrenzt. Das wissen wir zumindest seit dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems. Der Hegelsche Absolute Geist entsteht durch die geschichtlich erworbene Fähigkeit der Subjektivität eine vollständige Reflexion ihres eigenen Außenbildes zu erreichen. Scheitert dieser Anspruch- und dieser Anspruch ist zumindest philosophie- geschichtlich gescheitert- dann bedeutet dieses Scheitern nichts Anderes, als daß ich für die Anderen ausgestellt und den anderen auf eine Weise ausgeliefert bin, die ich nicht reflektieren kann.

Die Medien werden dabei als reale Träger dieses unendlichen, sich entziehenden, nicht greifbaren, radikal Anderen entdeckt, von dem die Philosophie der letzten Jahrzehnte geträumt hat, wobei das neue wesentlich erweiterte Potential der Speicherung, das die Medien bieten, charakteristischerweise im aktuellen Mediendiskurs kaum eine Erwähnung findet. Die Medien werden als ein unendlicher Informationsstrom beschrieben, der alle Archive überflutet und damit auflöst. Es handelt sich dabei um eine extrem libidinös besetzte Rhetorik, mit der man heute von den Medien spricht. Diese medialen Flüsse und Ströme, die alles überfluten, erinnern eindeutig an die Ströme des unendlichen libidinösen Unbewußten, das alle Ordnungen des Denkens überflutet. Auch über das Geld spricht man inzwischen mittels der gleichen Rhetorik: Es ist von den Geldflüssen die Rede, die von einem Finanzmarkt zu einem anderen Finanzmarkt frei fließen und sich nicht aufhalten, nicht kontrollieren, nicht regulieren lassen.

Es sind diese ekstatischen Visionen, die viele von uns dazu bringen, mit Schadenfreude zuzusehen, wie die alten Archive allmählich untergehen, weil Museen oder Bibliotheken immer weniger Geld bekommen. Öffentlich bedauert man diese Entwicklung, aber insgeheim freut man sich darüber, weil man hofft, sich an ein unendliches mediales Netz anzuschließen, um von einem elektrisch-libidinösen Strom durchströmt zu werden -wie früher ein Heiliger gehofft hat, durch die unendlichen göttlichen Energien durchströmt zu werden. Nicht zufällig sitzen die Menschen heute vor dem Computer im Dunkeln, wie ein Heiliger von damals in einer dunklen Kammer vor einer leuchtenden Ikone stand und glaubte, daß er gerade in dieser Einsamkeit an der Unendlichkeit der göttlichen Information teilnimmt. Die Heiligen unserer Zeit, d.h. Internet-Benutzer, vergessen dabei manchmal, daß die technisch geschaffenen Informationsnetze immer noch endlich bleiben, daß ihre Anschlüsse numeriert und gezählt sind, und daß das Internet in diesem Sinne genauso als Gefängnis verstanden werden kann, wie auch jedes andere moderne Archiv.

DIE LOGIK DER ARCHIVIERUNG

Aber es stellt sich dabei auf jeden Fall die folgende Frage: Was strömt hier eigentlich durch? Die Logik der Archivierung fordert von uns, in unsere Archive vor allem das aufzunehmen, was uns ungewöhnlich zu sein scheint. Um ins Archiv nicht zu gelangen, muß ein Mensch oder ein Gegenstand vielmehr nicht auffallen, gewöhnlich, banal, unscheinbar sein. Es ist das Banale, das dem Archiv entgeht. Jeder Spion oder Verbrecher, wie er in den modernen Krimis beschrieben wird, weiß, daß man banal erscheinen muß, um von den polizeilichen Archiven nicht erfaßt zu werden. Das gleiche gilt auch für die modernen Kunstmuseen: Gerade die konventionelle "museale" Kunst wird von ihnen als Kitsch abgelehnt- und nicht musealisiert. Die Diskurse und Kunstwerke, die sich auf das ganz Andere berufen, werden dagegen gerade deswegen in erster Linie archiviertDas Banale ist dabei keineswegs das Identische, das sich mechanisch Wiederholende, das Tautologische. Wenn wir sagen: "Dieses Bild ist wie ein Bild von Monet, es ist banal", dann meinen wir sicherlich keineswegs, daß es sich dabei um eine Kopie von einem Bild von Monet handelt. Das Banale ist nicht das Identische, sondern das Differente, das nicht different genug ist. Das Banale ist etwas, was sowohl identisch, wie auch different ist. Das Banale unterläuft also die Differenz zwischen Identität und Differenz. Das Banale erinnert an das, jedes logische System dekonstruierende "Supplement", wie es von Derrida beschrieben wird. So will Derrida beispielsweise zeigen, daß das Gespenst sich dem Archiv entzieht, weil das Gespenst zugleich anwesend und abwesend ist oder daß sich die Schrift jeder Zuordnung entzieht, weil die Schrift in bezug auf die gesprochene Sprache gleichzeitig sekundär und primär ist usw. Das Supplement dekonstruiert die Ordnung des Archivs, weil es das logisch ausgeschlossene Dritte ist. So kann man denken, daß sich dieses ausgeschlossene Dritte dem Archiv in dem Sinne entzieht, daß es sich jenseits dieses Archivs aufhält- und das Archiv dadurch von außen bedroht. Und wenn wir eine solche Analyse weiter treiben, dann bekommen wir einen Ozean der ausgeschlossenen Dritten, der die Insel der logischen Ordnung zu überfluten droht- einen Ozean der Banalität.

DIE GRENZEN DES ARCHIVS

Aber wenn die Banalität dem Archiv dadurch entgeht, daß sie sich jenseits seiner Grenzen verbreitet, bleibt sie trotzdem immer schon archiviert: Sie schreibt sich auf den beiden Seiten der Grenze ein, die das Archiv von seinem Anderen trennt. Das Archiv wird durch diese doppelte Einschreibung weder aufgehoben, noch dekonstruiert. Das, was sich jenseits der Grenzen des Archivs vermehrt, entgeht dem Archiv nicht. Es handelt sich nicht um das radikal Andere, sondern lediglich um das kleine Andere, um den kleinen Unterschied. Die Feststellung, daß das Banale immer schon ins Archiv eingeschrieben ist, und daß die Grenze des Archivs durch die Banalität unaufgehoben bleibt, bedeutet zusätzlich, daß wir immer die Möglichkeit haben, unser System der begrifflichen Oppositionen so zu modifizieren, daß diese Grenze begrifflich neu definiert und besser beschrieben wird. Die Archivierung geht dem Beschreibungssystem und der damit verbundenen Begrifflichkeit immer voraus. Gerade deswegen kann keine Dekonstruktion, wie auch keine Aufhebung einer mit den binären Oppositionen operierenden Logik das Archiv gefährden oder gar auflösen.

Wir benutzen das Archiv weitgehend wie eine Versammlung der platonischen Ideen: Man identifiziert die Dinge der Weit durch den Vergleich mit den Dingen im Archiv. Aber neben dem Museum gibt es auch eine andere Möglichkeit zur Entsorgung des Vergangenheit den Müllhaufen. Es gibt die bekannte Redewendung "gelandet auf dem Müllhaufen der Geschichte". Man kann sich fragen: "Wo befindet sich dieser Müllhaufen überhaupt?" Das Archiv ist es auf jeden Fall nicht, denn im Archiv sind die Dinge immer schon vorhanden- sie landen dort also nicht erst nach dem historischen ZusammenbruchDer Müllhaufen der Geschichte sind offensichtlich wir. Unsere eigene Aktualität, unsere Wirklichkeit, d.h. das, was wir "das Leben" nennen, ist nichts Anderes als dieser Müllhaufen der Geschichte. Es ist alles, was sich außerhalb des Archivs vermehrt hat. Der Müll ist auch eine Art Banalität, d.h. ein Produkt der kleinen Veränderungen, die jenseits des Archivs führen . Aber diese Veränderungen sind immer noch Veränderungen, und so ist es immer möglich, sie durch eine Beschreibung aufzufangen und zu archivieren. Der Müll, wie auch die Banalität, entgehen dem Archiv nicht. Und das bedeutet, daß unsere Aktualität, unser Leben dem Archiv auch nicht entgehen können. Es stellt sich also nicht die Frage danach, ob wir die Archive aufbewahren sollen oder nicht: Wir könnten den Archiven nicht entgehen, auch wenn wir es wollten.

Auszug aus einem Vortrag bei den Wiener Kolloquien Kulturwissenschaften am 12. Dezember 1996 in Wien.

[aus der Institutszeitschrift des IFK, heute "IFKnow"]



CV

Boris Groys, geb. 1947, Philosoph, Kultur- und Kunsttheoretiker, Köln. Groys studierte Philosophie und Mathematik in Leningrad, seit 1981 in der BRD, Forschungsaufenthalte in Philadelphia und Los Angeles; lehrt am Philosophischen Seminar der Universität Münster.



Publikationen

u.a. Zeitgenössische Kunst aus Moskau, München 1991, Über das Neue, München 1993.