Sigmund Freud als Übersetzer. Praktiken des Wissenstransfers, der Kritik und der Mehrsprachigkeit
Freud übertrug zwischen 1880 und 1938 eine Reihe philosophischer, sozialpolitischer, psychiatrischer und populärwissenschaftlicher Schriften, u. a. von John Stuart und Harriet Taylor Mill, Jean-Martin Charcot und Marie Bonaparte, ins Deutsche. Wiewohl Gelegenheitsarbeiten, lassen sich darin unterschiedliche Motivationen und Haltungen des Übersetzens erkennen. Die interlingualen Übertragungen sind Teil transnationaler Vernetzung und eines transnationalen Wissenstransfers wie des persönlichen Austauschs. Überdies zeigen die Translate Freuds kritische Rezeption einzelner Autor*innen und die enge Verknüpfung des Übersetzens mit der Arbeit an der eigenen Begrifflichkeit und Wissenschaftssprache. Insgesamt will das Projekt einen Beitrag zur umfassenden Bedeutung der Übersetzung wie der Mehrsprachigkeit für das Denken Freuds leisten und seine bislang kaum beachteten Übertragungen als Teil jener Kulturen des Übersetzens untersuchen, die die frühen Kulturwissenschaften prägten.
Esther Kilchmann ist Literatur- und Kulturwissenschafterin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Theorie und Geschichte literarischer Mehrsprachigkeit, sprachexperimentelle Literatur, Nation und Monolingualismus als kulturelle Ordnungen, Narrative transkultureller Erinnerungen. Bis 2021 Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literaturtheorie an der Universität Hamburg, davor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Habilitationschrift zu „vox peregrina. Studien zu Poetologie und Geschichte literarischer Mehrsprachigkeit in der deutschen Literatur des 20./21. Jahrhunderts“ (eingereicht). Promotion an der Universität Zürich mit einer Abhandlung zu Familie und Nation in der Literatur von Vormärz und Biedermeier. Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaft in Zürich, Prag und Berlin.
»Nicht übersetzt. Störfälle im Transfer zwischen den Sprachen«, in: Sandro Zanetti (Hg.), Zwischen den Sprachen. Mehrsprachigkeit und Übersetzung als Sprachöffnungen, Bielefeld 2019, S. 61–79; »Von short sentences, fancy-dresses und jeux de mots. Die Psychoanalyse und der exilbedingte Sprachwechsel«, in: gem. mit Doerte Bischoff, Christoph Gabriel u. a. (Hg.), Sprache(n) im Exil (= Jahrbuch Exilforschung 32 (2014)), S. 66–82; (Hg.), Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur (= Sonderheft der Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 3 (2012), Heft 2.
Freud übertrug so Divergentes wie Jean Martin Charcots »Poliklinische Vorträge« und Marie Bonapartes »Topsy. Der goldhaarige Chow« ins Deutsche. Welche Motivation, Technik und Haltung des Übersetzens zeigen sich hier? Inwiefern haben die Gelegenheitsarbeiten Teil an dem für Freuds Psychoanalyse so produktiven Paradigma der Übersetzung?