Wenn Forscher*innen zensieren. Zensur im Ersten Weltkrieg als »Kontaktzone« und »Übersetzungsraum«
Das Projekt ist den vielschichtigen Übersetzungspraktiken der Zensur in der Habsburgermonarchie während des Ersten Weltkriegs gewidmet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei die Zensurabteilung D des »Gemeinsamen Zentralnachweisbüros«, welche ihr Personal unter wehrpflichtigen (Geistes-)Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Akteur*innen der Wiener Moderne rekrutierte. Betraut mit der Überwachung und nachrichtendienstlichen Auswertung der Kriegsgefangenenpost, erwies sich die Zensurstelle dabei als Nadelöhr und Zwischenraum nicht nur für die massenhaft abgefertigte Korrespondenz, sondern auch für die wissenschaftlichen Biografien ihrer Zensoren, deren Aufgabe es war, verschlüsselte Botschaften privater Korrespondenz, aus allen Sprachen der Habsburgermonarchie und ihrer Kriegsgegner, in allgemeine Stimmungsberichte und Metadaten zu übersetzen. Unter Duldung der Heeresleitung speiste das gesammelte Material darüber hinaus auch ihre persönlichen Forschungsprojekte.
Evelyn Knappitsch studierte Geschichte in Graz und Wien und promovierte 2020 in Graz. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich Medien- und Kulturgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zentral in ihren Zugängen ist die Auslotung von Spielarten des historiografischen Erzählens. Derzeit ist sie Independent Researcher und als Lektorin am Institut für Geschichte an der Universität Graz tätig.
»Mehrsprachigkeit in der deutschsprachigen Presse des östlichen Europas. Am Beispiel des Annoncenteils des ›Prager Tagblatts‹«, in: Jörg Meier (Hg.), Mehrsprachigkeit in der deutschsprachigen Presse des östlichen Europas (= Journal für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 4/23), Oldenburg 2023 [angenommen]; Die Spur der Gazelle, ein indisches Märchen und die Kassetten der Kaiserin. Eine wissenschaftliche Perspektivensuche zur Geschichte des Literarischen Nachlasses der Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837–1898) und ihrer Korrespondenz mit Alfred Gurniak Edler von Schreibendorf (1857–1934), unveröffentlichte Dissertation, Graz 2020; gem. mit: Sabine Kaspar, Bernhard Thonhofer, Florian Ungerböck (Hg.), Die Karl-Franzens-Universität Graz und der lange Schatten des Hakenkreuzes, Graz 2017.
Bis zu 33 Zensurgruppen arbeiteten während des Ersten Weltkriegs im Haus mit der Adresse Tuchlauben 8 an der Überprüfung der Kriegsgefangenenpost. Ihr Personal rekrutierte die Zensurstelle dabei unter Wissenschaftler*innen und Akteur*innen der Wiener Moderne, welchen man die besondere Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, zuschrieb.