Gerald Heidegger
ifk Junior Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. September 1995 bis 31. Dezember 1995

Vom Selbst-Erkennen und Empfinden: Französische Bilder vom 'ganzen Menschen' und die Anthropologie der deutschen Spätaufklärung



PROJEKTBESCHREIBUNG

Grundsätzliche Fragestellung des Forschungsprojektes ist die Verweisbarkeit anthropologischer Schriften der deutschen Spätaufklärung auf den französischen Debattenhorizont zum 'ganzen Menschen' bzw. zur Selbstbezüglichkeit von Erkenntnis, dessen Einsatz mit den Essays von Montaigne angesetzt wird.

Der Versuch, eine 'französische Tradition' anthropologischer Diskurse als Gegenentwurf zum Menschen- und Naturbild des Cartesianismus herauszuschälen, steht zunächst vor der Frage nach der Bewertung des negativen Horizontes von Selbstbeobachtung, Affekt u.ä. durch Texte der französischen Klassik (Pascal, La Rochefoucauld, Madame de Ia Fayette, Malebranche etc.). Gerade im Auftreten und im Einsatz von Begriffen wie 'amour propre' oder 'sincérité' in den als 'anthropologisch' einzustufenden Arbeiten des âge classique wird die Ambivalenz im vorsätzlich negativ zentrierten Bild vom 'ganzen Menschen' aufzuzeigen sein. Gerade diese Widersprüchlichkeit verbirgt Ansätze eines Bewußtseins vom Menschen, dem die Trennung von Leib und Seele, Verstehen und Empfinden o.ä. zum Problem wird, dessen Lösung außerhalb rationalistischer oder theologischer Kategorien aber nicht 'denkbar' ist. Erst für die anthropologischen Debatten der deutschen Spätaufklärung samt ihrer antisystematischen Betonung von Empfinden oder der Subjektivierung von Erkenntnis und ihrer Ablehnung der Substanzentrennung wird die Konsequenz der 'negativen Anthropologie' (Stierte) der französischen Klassik umdeutbar. Nicht selten erweist sich der Rückgriff der Spätaufklärer auf den in seinem Skeptizismus und seiner Subjektivierung 'radikalsten' französischen Anthropologen der Neuzeit, Montaigne, als stimulierend. Die unsystematischen Schriften Lichtenbergs mögen hier als (inhaltliches wie poetologisches) Beispiel eines solchen anthropologischen Verweises stehen.

Neben der Beachtung von Veränderungen der menschlichen Selbstwahrnehmung verlangt das Forschungsprojekt gleichfalls die Fragestellung nach einer sich vom 17. auf das 18. Jahrhundert verändernden Wahrnehmung der Natur. Bereits für rationalistische Auseinandersetzungen mit der Natur ist eine Anthropomorphisierung der Naturwahrnehmung herauszuarbeiten.

Wesentlicher Rahmen für mein Thema ist aber die Erweiterung des Begriffes der 'historia' , dem ein Gleichsetzen der Kategorien Natur und Geschichte folgt, so daß die Geschichte der Natur seit dem 18. Jahrhundert als vorwiegend 'menschliche Geschichte der Natur' (Moscovici) zu lesen ist. Beispiel für eine 'Bündelung' der angeschnittenen Fragestellungen mögen die anthropologischen Schriften Herders sein, dessen Überlegungen zu einer Geschichte des Menschen wesentlich auf französische Vorbilder im Bereich der subjektiven Erkenntnis (Condillac) oder der Naturauffassung (Diderot) verweisen. In der Topik seiner anthropologischen Auseinandersetzung sind gleichzeitig 'Ahnen' wie Pascal oder Montaigne anzutreffen. Das mit meinem Dissertationsprojekt verknüpfte Forschungsvorhaben am IFK (Zusammenarbeit mit Jost Hermand) soll sich gerade mit methodologischen Frage- und Problemstellungen dieser Arbeit im Rahmen einer 'interdisziplinären Germanistik' beschäftigen.



CV

Gerald D. HEIDEGGER, Mag., geb. 1969, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Anglistik/ Amerikanistik in Wien; Diplomarbeit im Fach Komparatistik zum Thema "'Gesehene' und 'erschriebene' Wirklichkeit: Die Romane Claude Simons im Kontext der französischen FaulknerKritik".