Begriff und Erfahrung von Zeitgenossenschaft
Für den Kunsttheoretiker Peter Osborne erfasst das Zeitgenössische eine neue Form der historischen Zeit, welche die Globalisierung der Welt sowohl voraussetzt als auch überwindet. Sie beruht auf der kommunikationstechnischen Ermöglichung globaler Gleichzeitigkeit, aber sie läuft auf die Konstruktion einer »breiten Gegenwart« (Hans Ulrich Gumbrecht) hinaus, die viele aufrufbare Vergangenheiten und viele ausdenkbare Zukünfte enthält.
Damit erledigen sich viele Periodisierungen, die die Gegenwart von einer bestimmten Vergangenheit oder von einer bestimmten Zukunft her verstehen. Lag im Begriff der Globalisierung noch die Ausrichtung auf eine aufbrechende Welt des freien Verkehrs von Gütern, Menschen und Informationen, so steckt in der Vorstellung des Zeitgenössischen die Auffassung einer notwendigen Pluralität miteinander verbundener Welten, von denen jede für alle zu sprechen scheint.
Die Erfahrung des Zeitgenössischen lässt sich freilich nicht auf die bloße Gleichzeitigkeit verschiedener Welten reduzieren. Es braucht offenbar den Bezug auf bestimmte Ereignisse, bestimmte Zeichen oder bestimmte Bewegungen, die uns als Wesen auf einer gemeinsamen Erde erleben lassen.
Das Projekt will damit eine Antwort auf zwei Fragen geben: Wozu dient Zeitgenossenschaft? Und: Wie bewahrheitet sich Zeitgenossenschaft?
Heinz Bude hat in Tübingen und an der Freien Universität Berlin erst Katholische Theologie und dann vor allem Soziologie studiert. Mit einer Dissertation über die Wirkungsgeschichte der Flakhelfer-Generation ist er promoviert und mit einer Schrift über die Herkunftsgeschichte der Generation von 1968 habilitiert worden. Er war über zwanzig Jahre am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig und war von 2000 bis 2023 Universitätsprofessor für das Lehrgebiet Makrosoziologie an der Universität Kassel, und seit 2020 ist er Gründungsdirektor des documenta Instituts in Kassel. Seine Forschung hat zwei Schwerpunkte: Zum einen die Soziologie der Generationen, die für ihn zu einer Sozialgeschichte der Gegenwart gehört, und zum anderen die Protegierung des Begriffs der sozialen Exklusion, der auf querlaufende Verwerfungen in der Sozialstruktur von Gegenwartsgesellschaften aufmerksam macht. 2016 ist ihm von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie der Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie verliehen worden.
Abschied von den Boomern, München: Carl Hanser 2024 (Bye, Bye Boomer); mit Bettina Munk und Karin Wieland, Aufprall, München Carl Hanser 2020 (Violent Collision).
Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee, München: Carl Hanser 2019 (Solidarity. The Future of a Big Idea); Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, München: Carl Hanser 2016.
(The Mood of the World, Cambridge: Polity Press 2018);Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 2015 / (Society of Fear, Cambridge: Polity Press 2017).
Es geht um den Begriff und die Erfahrung von Zeitgenossenschaft. Die Zeit, die einfach so vergeht und möglicherweise plötzlich kommt, braucht offenbar eine Genossenschaft, die ihr dazu verhilft, sie selbst als historische Zeit zu sein. Das geschieht heute unter der Bedingung einer kommunikationstechnisch hergestellten Gleichzeitigkeit, die Menschen rund um den Globus miteinander teilen können.