Hinschreiben, was dasteht
Wie sein gesamtes Arbeitsmodell ist auch das Wien-Projekt von Kristian Wachinger dreigeteilt. Die integrale Arbeit am Text geschieht unter drei Perspektiven: Im Mittelpunkt der lektorischen Arbeit steht die Neuübersetzung von Baudelaires Spleen de Paris, die Simon Werle seiner gerühmten Fleurs du Mal-Übersetzung folgen lässt. Als eigene Übersetzung ist Le Coup de vague von Georges Simenon auf dem Programm, und eigene Versübertragungen der Lyrik von Victor Hugo. Im Bereich der editorischen Recherchen schließlich verfolgt er sein Projekt über Elias Canettis Orte weiter, wo Wien eine bedeutende Rolle spielt.
Kristian Wachinger, Jahrgang 1956, hatte gerade nach der deutschen Ganzwortmethode lesen gelernt, als er ein Buch zu fassen bekam, dessen Titel ihn vor neue Herausforderungen stellte: Maigret et l'inspecteur malgracieux. Ein Freund der Familie half ihm beim Dechiffrieren und Aussprechen und ermunterte ihn, nach der Buchhandelslehre Französisch zu lernen und Frankreich zu bereisen. Er studierte 1977–84 Germanistik und Romanistik in München, Nantes und Hamburg, danach erste Übersetzungen von Casanova, Mérimée und einer Paris-Anthologie, 1984–2015 verantwortlicher Lektor der Klassiker im Hanser Verlag, zeitweise mit Lehrauftrag an der Universität Regensburg. Seit 2016 freier Übersetzer aus dem Französischen, Herausgeber (spezialisiert auf Nachlasseditionen) und Lektor (mit Schlagseite zu Klassikerübersetzungen und Sachbüchern), seit 2017 Stiftungsrat der Canetti Stiftung Zürich. Zuletzt übersetzte er Laurent Binets Semiotiker-Krimi, die E.A.Poe-Schriften von Charles Baudelaire und drei Romane von Georges Simenon.
Als Herausgeber: Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe, hg. gem. mit Sven Hanuschek, München 2018; Veza und Elias Canetti: Briefe an Georges, hg. gem. mit Karen Lauer, München 2006; Elias Canetti: Party im Blitz. Die englischen Jahre, aus dem Nachlass hg., München 2003; Malaiische Liebeslieder, Gesamtausgabe nach den Erstdrucken und Handschriften, Ebenhausen bei München 2001; Paris, un florilège/Parisgeschichten, hg. und übersetzt gem. mit Martine Passelaigue, München 1998.
Als Übersetzer: Georges Simenon: Der Schnee war schmutzig, aus dem Französischen übersetzt, Zürich 2018; Prosper Mérimée: Carmen, aus dem Französischen übersetzt, Berlin 2014; Giacomo Casanova: Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig, aus dem Französischen gem. mit Ulrich Friedrich Müller, München 1988.
A!DRAMA präsentiert im Wiener WUK:
Elias Canetti: Die Affenoper
Szenische Lesung mit Musik
Dramaturgische Begleitung
Kristian Wachinger
13. und 14. Februar 2020, 20:00 Uhr
WUK Projektraum
WUK Werkstätten und Kulturhaus, Währinger Straße 59, 1090 Wien
Reservierungen: performingarts@wuk.at
Übersetzer und Lektor arbeiten eng zusammen, in der arbeitsteiligen Alltagspraxis meist mit klarem Rollenverständnis. Für beide Tätigkeiten ist es inspirierend, die Seiten regelmäßig wechseln zu dürfen. Denn gerade weil die Tätigkeiten nah verwandt sind, bereichern sie sich gegenseitig. Kristian Wachinger verbindet diese Techniken mit einer dritten: der Edition von Texten.
Simon Werle, vielfach preisgekrönter Übersetzer der französischen Theaterklassiker, hat 2017 die aufsehenerregende Vers-Gesamt-Neuübersetzung der "Fleurs du Mal" von Charles Baudelaire vorgelegt, eines der Gründungsmanifeste der lyrischen Moderne. Für 2019 bereitet er einen zweiten Band vor, der außer den Prosagedichten des "Spleen de Paris" bisher unübersetzte Jugendgedichte Baudelaires sowie ein Dramenfragment aus Baudelaires postromantischer Frühphase enthalten wird.
Vor 25 Jahren starb Elias Canetti (1994). Er hat fast das ganze 20. Jahrhundert erlebt und ist als Chronist einer verschwundenen Welt ebenso in die Literaturgeschichte eingegangen wie als empirischer Theoretiker der Verhältnisse zwischen Masse und Macht, die dieses Jahrhundert mehr als jedes vorangegangene geprägt haben. Seine literarische Karriere begann in Wien, aus dem er 1938 fliehen musste.