Piet Mondrian in Wien: auf der Suche nach dem unbekannten Dritten
Es ist schon mehr als zwölf Jahre her, dass in Wien eine größere Schau mit Werken von Piet Mondrian (1872–1944) zu sehen war. Aufgrund dieser Ausstellung in der Albertina konnte damals schon bemerkt werden, dass gerade der Kontext der Wiener Kultur des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts die einzigartige Chance bot, die Kunst und die Künstlerpersönlichkeit Mondrians neu zu entdecken. Es ergab sich die Gelegenheit, Mondrian als einem unbekannten Dritten auf die Spur zu kommen: nicht länger ausschließlich als „dem Propagandisten einer schlichten Entwicklungslogik“ des internationalen Modernismus (so Thomas Wagner in der FAZ, 26. April 2005). Der unbekannte Dritte, die Tendenz zum Skurrilen und sogar zum Gespensterhaften, die als das dritte Gesicht einer die Katastrophe abwendenden, ästhetischen Kultur der Moderne aufzufassen ist, fällt umso deutlicher auf, wenn man zum Beispiel die Selbstporträts Mondrians aus dem frühen 20. Jahrhundert interpretatorisch neben die zu gleicher Zeit in Wien entstandenen Selbstporträts Arnold Schönbergs stellt. Mit dem Komponisten Schönberg und verschiedenen anderen österreichischen Künstlern, wie Zemlinsky und Stefan Zweig, teilt Mondrian unter dem Druck der politischen und militärischen Ereignisse der 1930er Jahre auch die Erfahrung des Exils, die außer einer sehr schweren Herausforderung auch eine transatlantische Bereicherung im kreativen Sinne bedeuten konnte. Das dritte Thema des biografischen und kulturhistorischen Forschungsprojekts bezieht sich auf die sonderbare Junggesellenexistenz Mondrians, die sich in eine Tradition, die von Kant und Schopenhauer über Nietzsche und Flaubert bis Kafka und Wittgenstein führt, einreihen lässt. Mondrian meint das auch ideologisch, und geht davon aus, dass Männlichkeit und Weiblichkeit in einer zukünftigen globalen Kultur keine glaubwürdigen vitalen Positionen mehr darstellen, sondern dass die anthropotechnische Entwicklung der Menschheit auf eine dritte Position abzielt: eine maschinenhafte Mensch-Figur, die sich selbst genügt.
Der Kulturhistoriker Léon Hanssen bekleidet den Lehrstuhl für Life Writing and Cultural Memory an der Tilburg School of Humanities (NL).
Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Zwischenkriegszeit, (klassische) Moderne, Spieltheorie, Retromania/topia, Hauntologie, Transdisziplinarität, Cultural Memory.
Léon Hanssen war Mitherausgeber des Briefwechsels von Johan Huizinga (3 Bde.) und schrieb seine Dissertation über die Zeitkritik des großen Historikers: Huizinga und der Trost der Geschichte (1996). Anschließend veröffentlichte er eine zweibändige preisgekrönte Biografie über den niederländischen Kulturkritiker Menno ter Braak, die in gekürzter Fassung auch in deutscher Übersetzung erschienen ist: Menno ter Braak (1902–1940). Leben und Werk eines Querdenkers. Nach einer monografischen Arbeit über die Dichterin M. Vasalis (M. Vasalis: Das fruchtbare Missverständnis) konzentriert er sich jetzt auf eine breit angelegte Biografie von Piet Mondrian. Der erste Band erschien 2015: Die Schöpfung eines irdischen Paradieses. Piet Mondrian 1919–1933.
Léon Hanssen ist unter anderem Redakteur einer internationalen Website (im Entstehen), die sich zum Ziel setzt, sämtliche Schriften und Briefe Johan Huizingas sowie seinen kompletten schriftlichen Nachlass in Originalsprache und allen verfügbaren Übersetzungen zu präsentieren.
„Die Lust an der in Schwebe gehaltenen Illusion: Johan Huizinga und Georg Lukács“, in: Adam Bžoch (Hg.), Johan Huizinga and Central/East Europe / Johan Huizinga a stredná/stredovýchodná Európa, (= World Literature Studies / Časopis Pre Výskum Svetovej Literatúry 9 (2017) 1 April S. 41–47; „Games of Late Modernity: Discussing Huizinga’s Legacy“, in: Halina Mielicka-Pawłowska (Hg.), Contemporary Homo Ludens, Newcastle upon Tyne 2016, S. 23–34; De schepping van een aards paradijs: Piet Mondriaan 1919–1933, Amsterdam 2015; Menno ter Braak (1902–1940), Leben und Werk eines Querdenkers. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas, Münster, New York, München, Berlin 2011, (= Niederlande-Studien, Band 51).
7.10.2017: Die niederländische Zeitung "Trouw" druckt ein Interview mit IFK_Gast des Direktors Léon Hanssen unter dem Titel „Ik heb een droom“ („Ich habe einen Traum“).
Ein Essay von Léon Hanssen, IFK_Gast des Direktors im Wintersemester 2017/18, der am 3.2.2018 in der niederländischen Tageszeitung Trouw erschien.
Léon Hanssen war im Wintersemster 2017/18 IFK_Gast des Direktors. Ende Mai erscheint sein neues Buch Handboek voor de vagebond (Handbuch für den Vagabund) im Querido Verlag, Amsterdam (575 S.). Der Kulturhistoriker Léon Hanssen bekleidet den Lehrstuhl für Life Writing and Cultural Memory an der Tilburg School of Humanities (NL).
In seinem Buch „Marx' Gespenster“ bemerkt der Erzvater der „Hauntologie“, der französische Philosoph Jacques Derrida, dass ein Phantom niemals wirklich stirbt: „es bleibt stets zu-künftig und wieder-künftig“. Diese Definition trifft wohl in besonderem Maße für das Schicksalsjahr 1933 zu, das in der historischen Imagination des 21. Jahrhunderts noch immer sehr lebendig und spukhaft geblieben ist.