Fabrik der Gesten. Körpersprache im Film
Film modellierte Körperbilder und beeinflusste Veränderungen im Verhalten der Zuschauer, da er als Apparat für die Fixierung von Bewegung – so hatten es Physiologen, Psychologen, Psychoanalytiker, Anthropologen, Soziologen, Arbeitswissenschafter und Kulturphilosophen beobachtet – die Nachahmungsfähigkeiten der Zuschauer in Bezug auf die Motorik schärfte und trainierte. Darum möchte Oksana Bulgakowa in ihrem Projekt die Veränderungen der Körpersprache medialer Subjekte im Kontext einer zunehmend globalen Bilderzirkulation untersuchen, wobei es ihr nicht um die Universalcodierung der Gesten geht (wie sie von Charles Darwin oder Paul Ekman aufgefasst wurde) oder um emblematische Gesten, die von Kunsthistorikern erforscht werden,sondern um „bedeutungsloses“,nicht signifikantes körperliches Verhalten, das – nach den Beobachtungen von Soziologen, Historikern und Anthropologen wie Marcel Mauss, Marc Bloch, David Efron oder Norbert Elias – Veränderungen unterliegt. Objekt ihrer Analyse sind die Kulturen und Grenzen überschreitenden ästhetischen Übernahmen, ihre interkulturellen Transformationen, mediale Anpassungsstrategien und (später) Änderungen im Alltagsverhalten, welche wiederum mithilfe des Films festgehalten wurden. Das Material dafür liefern russische/sowjetische Filme (1917–1945) und west- wie ostdeutsche Filmkulturen (1945–1989).Primär zielt ihr Projekt auf Spiel-und Dokumentarfilme, die den Unterschied zwischen Kunstmodell und Alltagsmodell spüren lassen, aber auch auf Fotografien, Malerei und Werbung, schließlich Reflexionen durch die Verbalisierung sich verändernder Körpertechniken in den zeitgenössischen Diskursen.
Oksana Bulgakowa, geboren 1954 in Moskau,studierte am Moskauer Institut für Kinematografie WGIK, promovierte 1982 an der Humboldt-Universität zu Berlin, war Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Film an der Akademie der Künste der DDR, arbeitete bei den Freunden der Deutschen Kinemathek/Internationales Forum des Jungen Films und im Geisteswissenschaftlichen Zentrum (ZfL), Berlin, hat zahlreiche Bücher über das russische/sowjetische und deutsche Kino verfasst und herausgegeben, Filme gedreht, Drehbücher verfasst („Stalin – eine Mosfilmproduktion“, gem.mit Enno Patalas, WDR, Köln 1993, „Das Mädchen, das Stalin geküsst hat“, SR 1995, und „Die verschiedenen Gesichter des Sergei Eisenstein“, arte/ZDF 1998, beide gem.mit Dietmar Hochmuth), Ausstellungen kuratiert (z.B. die Filmsektion der Ausstellung „Moskau–Berlin, Berlin–Moskau, 1990 – 1950“ im Martin-Gropius-Bau Berlin und im Puschkin-Museum Moskau, 1995/96; „Alphabeticon: Russian Experiments with Text and Image in the 20th Century“, Herbert Hoover Memorial Pavilion, Stanford 2003; „Eisenstein’s Mexican Drawings“, ExtraCity, Antwerpen 2009) und Multimediaprojekte entwickelt („The Visual Universe of Sergei Eisenstein“ für die Daniel-Langlois-Foundation, Montreal 2005; die DVD „Factory of Gestures. Body Language in Film“, Stanford Humanities Lab 2008 sowie „Eisenstein: My Art in Life“ for Google Arts and Culture2017). Sie unterrichtete an der Humboldt-Universität zu Berlin, der FU Berlin sowie an der Universität Wien, der Stanford University, UC Berkeley und an der internationalen filmschule (ifs) Köln. Seit 2008 ist sie Professorin für Filmwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz.
gem. mit Dietmar Hochmuth (Hg.), Sergej Eisenstein. Das Ur-Phänomen: Kunst, Berlin 2016, engl. 2017; Das sowjetische Hörauge, Moskau 2010; Stimme als kulturelles Phänomen, Moskau 2015; Die Sinn-Fabrik/Fabrik der Sinne, Berlin 2015; (Hg.), Eisenstein. Metod/Methode, 4 Bd., Berlin 2009; Fabrik der Gesten, Moskau 2005; Sergej Eisenstein. Eine Biographie, Berlin 1998, engl. 2002, russ. 2017; Sergej Eisenstein: drei Utopien. Architekturentwürfe zur Filmtheorie, Berlin 1996; (Hg.), Die ungewöhnlichen Abenteuer des Dr. Mabuse im Lande der Bolschewiki, Berlin 1995.
Zum Thema "Das Fremde als Eigenes. Körperbilder und Körpergedächtnis in der Zeit der Bilderwanderung" hält die Filmwissenschafterin und IFK_Senior Fellow Oksana Bulgakowa am 28.11. um 18h einen Vortrag an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt.
Gäste im Salon: Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth / Berlin, Autorin und Herausgeber
Früher wurde die Sprache der Gesten von Erwachsenen an Kinder, von Erziehern an Schüler weitergegeben, in Büchern über gutes Benehmen festgehalten, in Tanzstunden eingeübt. Was passiert mit dem Körpergedächtnis, wenn die nationale Tradition neu bewertet wird, weil die Menschen Filme, die sich über nationale und soziale Grenzen hinwegbewegen, in ihre Alltagserfahrung einschließen?