Peter Berz
ifk Research Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. März 2006 bis 30. Juni 2006

Andere Augen II: Die Augen der Olme



PROJEKTBESCHREIBUNG

Gegen den Blick als Wahrnehmung steht der Blick als Geste. Gegen das Auge des Sehens steht das Auge als Organ. Es hat seine eigene Geschichte und Wissensgeschichte. Sie reicht nicht nur weit über das Feld des Sehens hinaus. In ihr wird die Funktionalität des Auges als solche zur Frage. Die Biologische Versuchsanstalt Wien (1902–1945) stellt diese Frage auf spektakuläre Weise: in der Züchtung von Augen am blinden Grottenolm durch den Biologen und legendären Reptilienzauberer Paul Kammerer. Dessen Versuche, in der Umwelt einer fotografischen Dunkelkammer, bei Rotlicht Augen zu entwickeln, lassen sich theoretisch bis zu Lamarck und Lavoisier zurückverfolgen. Aber was sind diese Augen, die eines Tages den Experimentator und seine Porträtkamera anblicken? Vom Licht hervorgebrachte Lichtorgane? Sind Lichtorgane, zu denen von den Sehzellen der Würmer über die Haut bis zur Netzhaut eine ganze "Lichtbiologie" gehört, schon Augen, mithin Sehorgane? Müssen Augen, die physiologisch voll ausgebildete Augen sind, auch sehen? Das lässt sich experimentell kaum entscheiden, denn auch die blinden Olme reagieren überaus sensibel auf Nahrung, Erschütterung, Veränderung der Umwelt. Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die Beziehung von Funktion und Organ und damit Richtung, Zeit, Begriff der Evolution selbst. Wo Lacan die Artikulation des Subjekts im Organ des Auges situiert, diesseits der Funktion des Sehens, wagt er einen Einsatz, der in dieser lamarckistischen Geschichte steht. In einer Kulturgeschichte der Wiener Moderne aber hätte jene radikale Durchlässigkeit von Ich und Umwelt, die Hermann Bahr physiologisch herleitete, am Ende ein biologisches Gegenstück: in, so Kammerer, gesteigerten "erregungs-energetischen Situationen", in denen auch der Dualismus von Keimplasma und Umwelt zusammenbricht.



CV

Kulturwissenschafter und Medientheoretiker, Berlin



Publikationen

08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001; gem. mit Christoph Hoffmann (Hg.), Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien, Göttingen 2001; gem. mit Helmut Hoege und Cord Riechelmann (Hg.), Anti-Darwin. Symbiose, Konvergenz, Erregung, Berlin 2006 (im Erscheinen).