Peter Payer
ifk Research Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. März 2002 bis 30. Juni 2002

Die Stadt und der Lärm. Zur Geschichte des Hörens, Wien 1870-1914



PROJEKTBESCHREIBUNG

In Europa wie in Amerika waren um 1900 gesellschaftliche Bewegungen entstanden, die auf die zunehmende Ausbreitung des Lärms und seine gesundheitlichen Folgen aufmerksam machten. Führende Tageszeitungen brachten ausführliche Reportagen über die akustischen Verhältnisse in den Großstädten; Ärzte und Psychiater sahen sich mit den Auswirkungen der Lärmüberflutung ebenso konfrontiert wie Gesundheitsbeamte und Hygieneinspektoren, die eine deutliche Zunahme an diesbezüglichen Beschwerden registrierten; Ingenieure, Architekten und Städtebauer suchten nach Möglichkeiten der Lärmreduktion; bei Vorträgen und Tagungen über Hygiene und Gesundheitspflege wurde der Lärm bzw. dessen Vermeidung zum wichtigen Thema.
Das Forschungsprojekt will die gesellschaftlichen Hintergründe dieser Entwicklung am Beispiel der Stadt Wien erhellen. Der Untersuchungszeitraum von 1870 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs umfaßt jene historische Periode, in der Wien sich zur modernen Großstadt entwickelte. Die ungeheure Dynamik dieser Jahrzehnte verlangte neue kollektive Strategien im Umgang mit dem Lärm, die im wesentlichen bis heute aktuell sind. Erstmalig wurde, so die These, der Lärm von einem individuellen zu einem gesellschaftlichen Problem, das von führenden sozialen Klassen auf breiter Basis diskutiert wurde. Eine neue auditive Wahrnehmungskultur entstand, in der Ruhe zur obersten (BürgerInnen)Pflicht erhoben wurde.
Eingebettet in die zeitgenössische Großstadtdiskussion der Jahrhundertwende, die von der Überreizung der Sinne und der Entstehung der "Nervosität" als der Krankheit des modernen Stadtmenschen geprägt wurde, soll analysiert werden, wie sich die öffentliche Geräusch- bzw. Lärmkulisse in Wien veränderte, wie diese Veränderungen von der Bevölkerung wahrgenommen bzw. bewertet wurden und welche Auswirkungen diese auf die Stadtentwicklung und die Gestaltung des öffentlichen Raumes hatten. Eine zentrale, auch zivilisationshistorisch bedeutsame Frage, die es dabei zu beantworten gilt, ist jene nach der Art der akustischen Sensibilitätsveränderung: Haben sich die diesbezüglichen Toleranzschwellen tendenziell eher mehr in Richtung Abstumpfung und Gewöhnung verschoben? Oder ist im Gegenteil eine gesteigerte Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegenüber Lärm zu verzeichnen?



CV

Freier Historiker und Stadtforscher, Wien



Publikationen

U. a. Der Gestank von Wien. Über Kanalgase, Totendünste und andere üble Geruchskulissen (1997); Unentbehrliche Requisiten der Großstadt. Eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten von Wien (2000); Vom Flohkino zum Multiplex. Brigittenauer Lichtspiele 1908-2001 (2001); (Hg.): Leben, Meinungen und Wirken der Witwe Wetti Himmlisch. Memoiren einer Wiener Toilettefrau um 1900 (2001); Hungerkünstler in Wien. Eine verschwundene Attraktion (erscheint Frühjahr 2002)